"Die berufliche und soziale Inklusion von Menschen mit Autismus ist nur möglich, wenn wir uns auf ihre kognitive Sichtweise einlassen und wenn wir Rahmenbedingungen schaffen, die ihren Bedürfnissen entgegen kommen. Die Entwicklung einer Berufsperspektive darf nicht bedeuten, dass sie sich ausschließlich an unsere Lebens- und Arbeitsverhältnisse anzupassen haben, sondern dass wir Bereitschaft zeigen, diese zu modifizieren: Denn es ist normal, verschieden zu sein!" - Prof. Dr. phil Matthias Dalfert
Dieses Zitat aus dem Interview mit Professor Dalfert charakterisiert Kernaspekte der beruflichen Integration von Menschen des autistischen Formenkreises. Den ersten Teil des Interviews finden sie heute unter dieser Rubrik des autismuslinkforum veröffentlicht. Dieses Interview ist der Auftakt zu weiteren Interviews mit Selbstbetroffenen, Angehörigen und Fachpersonen; ergänzend dazu finden Sie hier in den nächsten Monaten Artikel zu aktuellen Projekten und Hinweise auf mögliche Schnittstellen in dieser Thematik.
Die Frage nach entsprechenden Arbeitsfeldern betrifft dabei alle Menschen aus dem gesamten Autismus Spektrum und unser Ziel als autismuslinkforum ist es, eine breite informative Plattform für diesen Austausch anzubieten.
Die Integration von behinderten Arbeitnehmern in den 1. Arbeitsmarkt der 6. IV-Revision ist ein brisantes Politikum, dem sich die Gesellschaft aus finanzpolitischen Gründen stellen muss; die Bestrebungen der Invalidenversicherung, die sich aus den Zielen der 5. IV-Revision ergibt, werden mit entsprechenden Eingliederungsmassnahmen verstärkt, damit bis 2018 die heute 250'000 IV Vollrenten um fünf Prozent reduziert werden können; insbesondere die Dachorganisations Konferenz DOK der schweizerischen Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter integration handicap sieht dieses Ziel als sehr ambitioniert an, weitere Stellungnahmen sprechen von illusionären Zielen des Bundesamtes für Sozialversicherungen BSV, Andere hingegen halten diese Ziele für umsetzbar.
Bisher ist die Suche nach entsprechenden Arbeitsfeldern durch individuelle Initiative der Selbstbetroffenen und Angehörigen geprägt. In den letzten Jahren hat die IV Ihr Engagement erheblich verstärkt und unter Einbezug von Fachstellen mit ausgewiesenen autismusspezifischen Kenntnissen individuelle Prozesse aktiv unterstützt; doch können wir hier nicht vom Aufbau eines transparenten und nachhaltigen Systems sprechen und für die meisten Kernaspekte in der beruflichen Ausrichtung für autistische Menschen gibt es bei der IV keine spezifischen Regelungen.
Eine Perspektive der besonderen Art auf das Thema „ Arbeit ist Integration“ wird durch das Interview mit Herrn Prof. Dr. phil Matthias Dalfert ermöglicht, der im deutschsprachigen Raum als ausgewiesener Experte für den Bereich der beruflichen Integration und Rehabilitation von Menschen des autistischen Formenkreises angesehen wird.
Herr Dalfert hat als wissenschaftlicher Begleiter das Projekt „berufliche Teilhabe für Menschen aus dem autistischen Spektrum“ begleitet, welches im Rahmen von zwei Modellprojekten in 2003-2008 am Berufsbildungswerk St. Franziskus in Abensberg, gefördert vom BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales/ DE) durchgeführt wurde .
Das Interview wird im Wortlaut wiedergegeben und wurde durch Thomas van der Stad im Mai 2010 geführt.
Welche konkreten Empfehlungen können Sie uns aufgrund der Erfahrungen aus Ihren Forschungsprojekten der letzten Jahre auf dem Gebiet der beruflichen Bildung und Integration auf dem Arbeitsmarkt geben, was sind Ihnen Leitlinien in dieser Thematik geworden?
Die unterschiedliche Ausprägung der besonderen Fähigkeiten und des spezifischen Hilfebedarfs bei Menschen, die von Autismus betroffen sind, eröffnet sicherlich unterschiedliche Möglichkeiten der beruflichen Teilhabe in geschützter, teilgeschützter oder kompetitiver1 Form. Dennoch wurde unterschätzt, dass viele MmA2 eine berufliche Tätigkeit erlernen und ihre Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beweis stellen können, wenn sie eine ihnen gemäße Förderung erfahren.
Dies bedeutet: Differenzierte Assessmentverfahren ermöglichen zunächst, die Potentiale und Interessen von MmA aufzuspüren. Sie benötigen ein Lernumfeld, das Rücksicht nimmt auf ihre Besonderheiten, Ausbilder und Lehrer, die über autistische Syndrome Bescheid wissen und angemessene Hilfestellung geben können, Erfahrungsräume, die ihnen die Möglichkeit bieten, verschiedene berufliche Tätigkeiten kennen zu lernen. Sie benötigen (u. U. mehr) Zeit, um sich die erforderlichen Kenntnisse aneignen zu können, Rückzugsmöglichkeiten auch im Arbeitsalltag, um sich regenerieren zu können, sie benötigen klare Strukturen und Handlungsanweisungen, um zu wissen, was sie tun sollen, am besten in visualisierter Form.
Schließlich muss die Berufsplanung immer mit der Entwicklung einer Lebensperspektive einhergehen und sämtliche Lebensbereiche umschließen. Dies bedeutet, dass neben der beruflichen Entwicklung die Förderung der sozialen Kompetenzen und die Perspektive eines Lebens in für sie wünschenswerten sozialen Bezügen eine unverzichtbare Bedeutung erhält.
Welche zentralen Elemente der beruflichen Förderung von Menschen mit Autismus sind für Sie vordergründig zu berücksichtigen im Aufbau solcher Arbeitsfelder? können sie diese „steps to go“ formulieren und anhand von Fallbeispielen aufzeigen?
Zentrale Elemente der Berufswegplanung:
Bestmögliche schulische Förderung
Intensive Zusammenarbeit der Fachkräfte aus der beruflichen Rehabilitation mit den Angehörigen, um Kenntnisse über das Lernverhalten auch über das Vorhandensein und den Umgang mit Verhaltensoriginalitäten zu klären
Klärung des besonderen Förderbedarfs und Finanzierung durch die Arbeitsagenturen
Durchführung vorberuflicher Bildungsmaßnahmen
Durchführung geeigneter Assessmentverfahren
Klare Strukturierung des Arbeitsalltag
Spezifische Gestaltung des Arbeitsumfeldes
Planung der einzelnen Lernschritte in Orientierung am TEACCH-Modell
Regelmäßiges feed-back über die erfolgten Entwicklungsschritte
Nach und nach Reduzierung der behinderungsspezifischen Rahmenbedingungen (Stellwände, Visualisierung, ..) , Erkundung von Transfermöglichkeiten des Gelernten, Fremdpraktika
Unterstützung durch Jobcoaches bei Bedarf während und auch nach Abschluss einer Berufsausbildung
Entlasstraining, Netzwerkbildung am Wohnort
Hilfestellung bei der Suche eines Arbeitsplatzes durch Integrationsfachdienste und personelle Unterstützung bei der Einarbeitung durch Arbeitsassistenten
Weitere Unterstützung, auch fakultativ, durch eine Bezugspersone, der auch in Krisensituationen dem Beschäftigten oder dem Betrieb zur Verfügung steht
Einbindung in eine Netzwerk von Sozialkontakten (Familie, ASPI-Freizeitgruppen, professionelle Dienste)
Welche Organisationsinstrumente haben sie im Assessmentbereich genutzt und wie war in diesem Bereich die Organisationsstruktur aufgebaut?
Im BBW Abensberg besteht die Möglichkeit, ein vorberufliches Training, sogenannte berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen (BVB), zu absolvieren. Diese erstrecken sich auf ein Jahr und haben zum Ziel, die Rehabilitanden mit Tätigkeiten in verschiedenen einschlägigen Ausbildungsfeldern (Farbe, Ausbau, Metall, Holz, Hauswirtschaft, Gartenbau u.v.m.) vertraut zu machen. Hier können die Teilnehmer herausfinden, für welche Tätigkeiten sie geeignet sind. Gleichfalls finden zeitlich kürzere Maßnahmen der Berufsfindung und Arbeitserprobung statt, die vom Assessmentcenter für die Probanden organisiert werden, die bereits einen bestimmten Berufswunsch hegen.
Ziel der Assessmentmaßnahmen besteht darin, von jedem Probanden ein Fähigkeitsprofil zu erstellen und mit dem Tätigkeitsprofil eines möglichen Berufes zu vergleichen. Aus der unzureichenden Kongruenz bzw. der Diskrepanz zwischen Fähigkeiten und beruflichen Erfordernissen im jeweiligen Tätigkeitsbereich ergibt sich dann der individuelle Unterstützungsbedarf. Den ressourcenorientierten ICF Kriterien entsprechend findet hier ein eigens entwickeltes Testinstrumentarium, der DIK 2, Verwendung. Ausbilder, Lehrer der Berufsschule, Therapeuten sowie die Sozialpädagogen in den Internaten arbeiten eng unter der Leitung eines für jeden Probanden zuständigen Case Managers zusammen, der den Rehabilitationsverlauf des jeweiligen Probanden begleitet und strukturiert.
Den 2. Teil des Interviews mit Herrn Professor Dalfert können Sie hier am 19. August lesen