Basiert Asperger/Autismus zu einem gewissen Teil auf verlernbarer (!) Egozentrik?

  • Hallo,

    ich hoffe, ich provoziere niemand zu sehr mit diesem Post. Aber nachdem ich mittlerweile (durch eigene Einsichten) locker 90% meines Asperger-Daseins "verlernt" hab, möchte ich diesen Gedanken doch einmal anregen. Was hat mich dazu gebracht?

    "Typisch" Autist war mein Sozialverhalten fernab von Gut und Böse. Ich verstand die anderen nicht, die anderen verstanden mich nicht. Es interessierte mich aber auch lange nicht groß. Ich lebte in meiner kleinen Welt. Um die Dimension mal zu beschreiben: Ich war so abgekaspelt von allem und allen, dass in Zeiten, in denen andere mit Mädels gekonnt flirteten, die Mädels hinter mir herliefen und mir in den Hintern zwickten, um mich zu necken. Ich lief weg, gackerte wie ein Huhn, versuchte der Lehrerin unter den Rock zu kriechen und sagte "Frau Lehrerin, die Mädels belästigen mich sexuell!"... Sie musste versuchen, sich das lachen zu verkneifen.

    Psychologen, zu denen mich die Eltern schickten, waren ratlos. Einhelliges Urteil: "Bei dem Grad an Autismus wird Ihr Sohn nie ein normales Leben führen können".

    Es war ein Onkel, der meine Eltern dann zu einem Experiment anregte. Denn Pseudo-Altklug und unhöflich wie ich war bedankte ich mich nie für Geschenke. Ich rechtfertigte dies mit dem Argument, ich hätte ja nie um die Geschenke gebeten. Und worum man nicht bittet, dafür muss man sich nicht bedanken. Und das ist ja etwas, was ich mittlerweile wirklich typisch für Asperger halte. Man sagt solche Dinge, hält sich dabei noch für klug und denkt "Was haben diese Normalos für komische Sitten? Warum sind die nicht so wie ich?".... Die Asperger-Homepages sind dann ja auch voll davon, dass die Leute noch mit Stolz verkünden, was Höflichkeit doch für ein Quatsch sei und so weiter. Das Experiment meines Onkels ging so: Die Eltern sollten die Geschenke für einen Tag zurückhalten bei meinem nächsten Geburtstag. Und so geschah das dann auch. Als ich verdutzt fragte "Garkeine Geschenke?"....sagten meine Eltern "Du sagtest ja, du sagst nie Danke weil du gar nicht nach Geschenken gefragt hast. Also gibt es diesmal auch keine." Und das setzte einen massiven Lernprozess in Gang. Ich war regelrecht geschockt, denn hier wurde ich mit meinen eigenen "Waffen" geschlagen. Ich konnte mich nicht mal beklagen (so sehr ich Geschenke auch mochte), denn es entsprach ja meiner (aus heutiger Sicht) verqueren Logik. Dass meine Eltern die Geschenke am nächsten Tag dann "nachreichten" änderte nichts daran, dass sich hier ein Denkprozess in Gang gesetzt hatte. Ich fragte mich, ob ich nicht zumindest an einigen Stellen das Problem sein könnte. Und so liess ich mir von Verwandten und den wenigen Bekannten die ich hatte (wobei es rasch mehr wurden, weil es viele spannend fanden, jemand "die Welt zu erklären") eben erklären, wie "normale Leute" so ticken und warum. Und ich beobachtete natürlich auch und experimentierte. Auch Rollenspiele waren dabei. Mal ein Beispiel: Ebenfalls "typisch Aspi" sagte ich damals Leuten immer ungeschminkt direkt und hart alles vor den Kopf. Das machten die anderen dann auch mal bei mir. Ich war geschockt, wie sich das anfühlte und wie bitter die Medizin kostetete, die ich so bedenkenlos austeilte. Spätestens hier merkte ich, wo der Hase lang läuft. Und so lernte ich mehr und mehr und mehr, warum "normale" Leute eben ticken wie sie ticken. Und warum das sehr oft durchaus seinen Sinn hat. Ich sage übrigens bewusst "sehr oft" und nicht immer, denn gewisse Dinge, wie mein Querdenker-Tum habe ich mir erhalten und gebe das auch nicht auf, denn gewissen massenpsychologischen Prozessen zu widerstehen, wo es sinnvoll ist (und nicht aus Trotz!), das ist sehr wertvoll.

    Heute bin ich übrigens gar ein Meister in vielen Dingen, vor denen viele Autisten sich grausen. Smalltalk, Einfühlungsvermögen, Zweideutigkeiten und so weiter.

    Oh...Smalltalk, ein wunderbares Thema, weil das eine Sache ist, mit der selbst gut "angepasste" Erwachsene Autisten/Aspis auf Kriegsfuß stehen. Ja, ich sage bewußt Kriegsfuß, weil ich immer wieder höre: "Selbst wenn ich wollte, Smalltalk ist einfach doof und sinnlos und oberflächlich". Habe da letzens mit einer Aspi-Bekannten auch eine kleine Rollenspie-"Therapie" gemacht. Szenario: Ein Date/Kennenlernen..etwas dergleichen. Ich: "Hättest du Lust, jetzt über das Fressverhalten von Regenwürmern zu sprechen?"...Sie: "Nein"....Ich: "Über Computer-Prozessoren?"...Sie "Nein". Ich: "**********" (hier bitte etwas sexuell direktes denken). Sie: "Gott bewahre, das geht zu schnell". Die Verwunderung "ausnutzend", ging ich über zu Alltags-Themen wie der Regen die letzten Tage, und glücklich über den Themenwechsel plauderte sie auch drauf los. Dass sie auf dem Weg hierher nass geworden ist und ihr Gemüse auch drunter leide und so weiter. Ich sagte dann "Glückwunsch zu deinem ersten Smalltalk!". Und auch bei ihr machte es KLICK. "Aha, darum machen die normalen Leute also Smalltalk. Fachthemen interessieren nicht immer, direkt mit etwas sexuellem ins Haus fallen ist auch für direkte Leute wie mich unangenehm, aber über so Dinge wie Regen, die uns ja alle nerven, das klappt ja doch ganz gut."... Und ich "Eben. Es geht ja darum, erst einmal das Eis zu brechen". Und dann sagte ich etwas, was bei ihr noch mehr Klicken auslöste. "Wir kommunizieren ja nicht nur mit Sprache, sondern ja eben auch unbewußt. Und selbst wenn das Thema an sich banal ist, lernt sich unser Unterbewußtsein eben kennen durch nonverbale Signale und man ist sich selbst nach einem Wetter-Plausch vertrauter als wenn man eben im Zweifelsfall garncihts redet, weil man kein Fachthema zur Hand hat, was für beide passt und intime Themen eben auch grad nicht passend sind". Nun ... mittlerweile ist die Dame in Smalltalk ebenfalls recht gut ;)

    Es geht eben darum, die unmögliche und falsche Autisten-Egozentrik aufzugeben ala "Smalltalk hat 0 Sinn, der andere hat mit mir über mein Fachthema zu reden weil ich halt so toll bin, Basta!". Wenn man mal eingesehen hat, wie falsch und unsinnig das ist - auch aus rein RATIONALER, LOGISCHER ( ! ) Sicht, dann hat man schon die Hälfte gewonnen! Und die Einsicht ist so verdammt wichtig, denn viele Autisten lernen nur oberflächlich Dinge wie Smalltalk, lehnen sie aber innerlich ab weil sie den Sinn nicht verstehen. Darum fühlen sie sich dabei unwohl und sie werden nie wirklich gut. Aber....wie man ja an mir sieht und an meiner Bekannten - die Dinge haben Sinn, man kann ihn verstehen und das Ganze kann dann sogar Spaß machen! Von den gewonnen sozialen Möglichkeiten und der neuen Lebensfreude mal ganz abgesehen!

    Also, was denkt ihr? ;)

  • Herzlichen Dank für deine Gedanken. Sie machen uns Mut für unser Kind mit ASS. Ausserdem sind wir Eltern gehörlos und haben darum mit Smalltalk mit Hörenden oft zu kämpfen, weil der Smalltalk durch die Trennung der beiden Welten (gehörlos und hörend) hart zu kämpfen hat, dabei ist es ja der Sinn von Smalltalk, "einfach" zu sein.

  • @ MA marco:


    Oder provozierst Du gerne und bewusst mit solchen dreisten Post's?


    Wenn Du so "locker 90% Deines Asperger-Daseins verlernt hast", drängt sich für mich die Frage auf: Bist Du hier wirklich am richtigen Ort?

    Dasselbe gilt auch für Deine Aussage dass "Du heute ein Meister bist in Dingen vor denen viele Autisten sich grausen".


    Hast Du überhaupt eine offizielle Diagnose einer ASS-Störung?

    Wenn ja, sollte das in deinem Profilbild oder zumindest in deinem Beitrag erwähnen.


    ***


    Wer tatsächlich eine ASS-Störung (mit Diagnose) hat, wird auch den bitteren Unterschied kennen den es gibt zwischen:

    - dem nicht Wahrnehmen und Interpretieren können der Botschaften von NT's und

    - dem nicht Wahrnehmen und Interpretieren wollen der Botschaften von NT's.

    (NT = Neurotypische Menschen, der Norm entsprechend.)


    Das nicht Wahrnehmen und Interpretieren können der Botschaften von NT's ist das ASS-Problem. Es beeinträchtigt ihre Möglichkeiten der sozialen Interaktion und hat dementsprechend weitreichende Konsequenzen. Menschen mit ASS sind dem je nach Ausprägung mehr oder weniger stark unterworfen, da es ihnen nur mit grosser Anstrengung gelingt wie NT's mit NT's zu interagieren. Menschen mit ASS erscheinen dem Umfeld womöglich wie Egozentriker.

    Das nicht Wahrnehmen und Interpretieren wollen der Botschaften von NT's betrifft NT's mindestens genauso. Es kann aus egoistischen Gründen oder mangelndem Interesse geschehen.

    Das kommt natürlich nicht gut an. Beim egoistischen Motiv versucht sich einer einen Vorteil auf Kosten des anderen zu verschaffen. Beim mangelnden Interesse wird der andere ignoriert.

    Beides ist eine Abwertung und ein absolutes No-Go: Es wird vom anderen meist sanktioniert und nicht toleriert.


    Wenn NT's nicht erkennen dass die Interaktion beim Gegenüber aufgrund einer ASS beeinträchtigt ist, werden sie ihn automatisch sanktionieren. Sie müssen ja davon ausgehen dass sein Verhalten bewusst abwertend ist. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, dass jemand der ihnen gut gesinnt ist sich so unhöflich, arrogant, unangemessen, ... benimmt - oder überhaupt nicht reagiert!


    ****


    In Deinem Beitrag geht es m.E. primär um das nicht Wahrnehmen wollen.


    Falls Du Dich hier lustig über Menschen mit ASS machen möchtest finde ich das völlig unangebracht und deplaziert.


    Falls Du aber tatsächlich eine ASS hast befürchte ich, dass Du sehr oft von den anderen abgewertet worden bist und deren Sprüche verinnerlicht hast. Das wäre alarmierend und dann besteht Handlungsbedarf. Wer mit ASS die Perspektive der NT's übernimmt und glaubt mit blosser Anstrengung könne er genau so sein wie die NT's der versucht die ganzen Interaktionsprobleme der ASS zu kompensieren. Dies wird aber unmöglich ganz gelingen und führt bei jedem (vorprogrammierten) Misserfolg mehr in die Sackgasse. In der Folge kommt es höchstwahrscheinlich irgendwann zu einem Burn-out, einer Depression gar zum Suizid.


    Auch die Anektode mit deinem Onkel könnte bei Deiner ASS anders gedeutet werden. Dies erkläre ich anhand meiner folgenden Erfahrung:

    Mein Jüngster bedankt sich auch meist nicht für Geschenke. Erinnere ich ihn daran so sagt er dann "Ooops, habe ich vergessen. Danke liebe/r Onkel für das tolle Geschenk". Natürlich wird er traurig sein und sich Schuldgefühle machen, wenn ich ihm an seinem nächsten Geburtstag keine Geschenke mache und das Begründe mit "weil Du letztes Jahr so undankbar warst". Aber so was von gemein kann und will ich zu meinem Sohn nicht sein.


    Apropos Smalltalk, kannst Du üben. Das geht bis zu einem gewissen Grad. Aber wenn Du beruflich eine hohe Belastung tragen musst oder eine eigene Familie hast und an deine Belastungsgrenze kommst wird das trotzdem nicht mehr gut funktionieren. Auch wenn Du das früher lange geübt hast. Du kannst dann gar nicht mehr zuhören was die anderen sagen, weil du dich in deinem Kopf mit zu vielen für dich drängenden Fragen beschäftigst und folglich keine Kapazität mehr für Smalltalk hast.


    ***


    @ famfomply


    Ihr habt eine schwierige Situation zu meistern. Aber einen kleinen Vorteil habt ihr auch: Ihr könnt Euch besser in Euer Kind einfühlen als NT's, weil ihr wisst wie das ist mit einer Beeinträchtigung klar kommen zu müssen die von den anderen schwer wahrnehmbar ist.

    Und Ihr beschreibt das sehr schön mit den zwei Welten (gehörlos und hörend) oder eben (ASS und NT).


    Wo gegenseitige Achtung und Respekt vorhanden ist findet eine Bereicherung statt und diese wird Früchte tragen.

  • Ich möchte einmal beschreiben wie das bei mir war und wo ich nun stehe.


    Ich kam mit knapp 8 Jahren wegen starken Verhaltensauffälligkeiten in ein dafür ausgerichtetes Kinderheim. Nach diversen Untersuchungen (psychologische, medizinische) und Diagnostiken stand fest: ADHS und AWVS, teilweise sozial nicht angepasst, extrem stark ausgeprägte Wahrnehmung von akustischen und visuellen Reizen, grosse Probleme mit Berührungen.

    Das war in den frühen 80ern.


    Mit anderen Kindern konnte ich bis auf meinen Zimmerkameraden gar nicht.... Interessant erschien mir wenn dann nur der Kontakt zu erwachsenen Menschen, also Lehrern und Erziehern.


    Spätestens mit dem Einsetzen der Pubertät setzte ein ganz bestimmter Prozess bei mir ein. Vorher wusste ich nur: ich bin anders als nahezu alle anderen Menschen - genauer: nahezu alle anderen Menschen sind anders als ich - und bis zu diesem Zeitpunkt waren Menschen für mich ein "Buch mit sieben Siegeln" (Redewendung). Ich verstand sie nicht, ich verstand nicht, weshalb sie so agierten wie sie agierten, ich verstand auch nicht, weshalb ich oft entweder das Ziel ihrer Boshaftigkeiten war (heute Mobbing) oder nicht ernst genommen wurde.


    Aber... Mich interessierte das Verhalten von Menschen. Ich wollte verstehen, wie und warum sie so kommunizierten wie sie es taten, verbal wie auch nonverbal.

    Je mehr und länger ich Menschen und ihr Verhalten beobachtete und analysierte, umso mehr konnte ich ich Vorgehen erkennen, vorausberechnen, was als nächsten kommt aber vorallem, und das ist vermutlich der wichtigste Punkt: ich lernte ihr Verhalten nachzuahmen, sich ihnen anzupassen.

    Ich war und blieb zwar ein Aussenseiter, aber ich wurde selbstsicherer im Umgang mit anderen Menschen, ich konnte sie immer besser imitieren und ihre Art zu sein nachvollziehen und vorausberechnen.

    Ausserdem lernte ich, besser mit den akustischen und visuellen Reizen umzugehen.


    Mit knapp 22 Jahren war ich nahezu unauffällig / "normal".

    Ich ging manchmal mit einer Person, mit der ich in der Ausbildung war, in die Stadt in den Ausgang. Ich interagierte mit Menschen, tauschte mich mit ihnen aus. Nur Smalltalk war damals für mich immer noch ein Problem.

    Laute Geräusche und Blitzlichter von Einsatzfahrzeugen (Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen) waren immer noch zuviel für mich, aber sonst... Knallgeräusche erschreckten mich, mehr aber auch nicht.


    Mit 35 Jahren begann etwas, was bis heute andauert. Es ist eine Mischung aus "ich werde immer feinfühliger" und "ich verlerne zusehends Kompensationsmechanismen und -strategien".

    Es war und ist ein schleichender Prozess.

    Intuitiv Menschen verstehen konnte ich nie. Aber ich konnte mit dem Wissensschatz der Erfahrung und Logik diese mir fehlende/nicht ausreichend vorhandene Intuition nachbilden.


    Aber.... Ich begann mit 35 Jahren erst nur manchmal, mit zunehmendem Alter aber immer öfters mit meiner auf Erfahrung und Logik basierenden "Intuition" daneben zu liegen. Bis dahin konnte mich fast niemand "auf den Arm nehmen" (Redewendung).

    Ebenso konnte und kann ich immer mehr zunehmend nicht mehr mit den akustischen und visuellen Reizen umgehen, sie überfordern mich immer mehr.

    Auch soziale Interaktionen fallen mir immer schwerer. Ich weiss hier aber nicht, ob es an mir liegt oder dem immer stärker werdenden Unvermögen anderer Menschen, eine Diskussion mit Respekt (der anderen Person gegenüber) und Argumenten zu führen. Meinem Eindruck zufolge finde ich soziale Interaktionen immer mühsamer, nerviger, aber öfters auch als Zeitverschwendung.


    Ja... Nur wusste ich bis zur Autismusverdachtsäusserung mit knapp über 40 Jahren nichts von diesem einsetztenden Prozess bzw. nahm ich diesen Prozess als solchen nicht so wahr. Ich merkte nur: es ändert sich etwas. Ich werde unruhiger, ermüde über den Tag immer eher, habe weniger Kraft.

    Mehr aber auch nicht.


    Kurz vor Beginn der Autismusdiagnostik bekam ich die Unterlagen aus oben genanntem Kinderheim. Von den damaligen Diagnosen ADHS und AWVS wusste ich nichts. Aber ich erinnere mich an viele Tests, einige IQ-Tests, viele Untersuchungen unter anderem auch ein EEG.

    Als ich diese Unterlagen durchlas sprangen mir viele Beschreibungen entgegen, die man so dem Asperger-Syndrom zuschreiben würde. Damals jedoch begann sich Lorna Wing gerade mit der Arbeit von Hans Asperger zu beschäftigen.

    Für das damalige Bild eines Autisten war ich wohl schlicht "zu normal".

    Ich tausche mich seit knapp drei Jahren über das Internet mit anderen Autisten aller Altersgruppen aus.

    Interessant dabei ist, dass in der Altersgruppe, die wie ich erst mit knapp über 40 Jahren ihre Diagnose erhielten, sich unsere Geschichten erschreckend oft sehr ähnlich sind.

    Auffällig als Kind, gelernt sich anzupassen, ab 35-40 Jahren immer grösser werdende Probleme, Diagnostik und Diagnose "Autismus" (meist Asperger-Syndrom, manchmal atypischer Autismus).


    Ich halte es für fatal formulieren zu wollen, man könne seinen Autismus "verlernen".

    Man kann vielleicht(!) lernen besser damit umzugehen, Strategien zu entwickeln, um sich beispielsweise nicht fortwährend zuvielen Reizen auszusetzen.

    Aber: ist man Autist, wird man es sein Leben lang sein. Egal wie gut man mit seinem Autismus umzugehen weiss und kann.


    Solltest Du marco gelernt haben mit Deinem Autismus umzugehen ist das toll.

    Das kenne ich so ja auch irgendwie von mir.

    Daraus aber ableiten zu wollen, dass man seinen Autismus* "verlernen" könne ist gefährlich.

    Gefährlich für Autisten, gefährlich für deren Angehörigen, weil sie sich so unter Umständen falsche Hoffnungen machen könnten.

    Gefährlich, weil die Allgemeinheit denkt, man können Autismus verlernen, wegtherapieren, verschwinden lassen und müsse deshalb auch weniger Geld und Bemühungen in Bereiche stecken, die Autisten tangieren.

    Es könnte auch ein fatales Signal sein, wenn es um das Thema echte Inklusion geht.


    * Du nennst es "verlernbarer Egozentrik", aber mit direktem Bezug zu Autismus.

    Interessanterweise erscheint mir keine der Autisten, mit denen ich mich seit bald drei Jahren über das Internet austausche, als Egozentriker oder "in sich gekehrter Mensch". Ganz im Gegenteil, nahezu alle, mit denen ich mich austausche erscheinen mir als introvertierte, sehr nachdenkliche und vorallem sehr sozial denkende Menschen, die für andere da sind und auch mal ihre Belange hinten anstellen. Sie ecken vielleicht zuweilen durch ihre direkte Schreibweise ohne Schnörkel und ohne Einhaltung sozialer "Spielregeln" an, sie werden deshalb manchmal missverstanden und als "unsozialer Hobel" wahrgenommen, aber mehr auch nicht.

    Manche von ihnen schreiben sehr selten etwas, manche von ihnen schreiben viel.

    Egozentrisch, histrionisch oder extrovertiert veranlagt, all diese Attribute könnte ich niemanden dieser Gruppe zuordnen.



    Wie ist es heute bei mir?

    Heute ist es so, das ein Einkauf in einem Geschäft für mich extrem ermüdend ist... All die Geräusche, Lichter, Menschen, Eindrücke und Reize Das ist zuviel für mich, es überfordert mich.

    Dennoch kaufe ich ein, auch wenn ich mich danach immer öfters hinlegen muss. Ich nenne es "Training".


    Ich arbeite(te) immer auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt und nicht in einer "geschützten" Umgebung. Vieles nervte mich über die ganze Zeit gesehen, aber die letzten Jahre waren diesbezüglich ganz schlimm. Auch das Verhalten von immer mehr Arbeitskollegen ist für mich zunehmend eine Herausforderung.

    Aus diesem Grunde habe ich im Geschäft zum Beispiel auch nie etwas für den Kühlschrank und/oder die Mikrowelle dabei. Dinge die im Kühlschrank vor sich hin verrotten, Mikrowellengeräte, die aussehen, als wäre in ihnen Essen explodiert und dennoch wurden sie nicht gereinigt...


    Als Kind hatte ich einen Dauertinnitus.

    Als Erwachsener war er weg.

    Seit bald vier Jahren ist er wieder mein ständiger Begleiter. Oft nehme ich ihn nicht wahr, aber in für mich stressigen Situationen wie eben einem Geschäft macht er sich stark bemerkbar und kann dann auch noch Tage später nerven.


    Als Kind war ich von selektivem Mutismus betroffen. Als Erwachsener hatte ich das nicht mehr... Bis vor etwa 4 Jahren. Ich weiss nicht, wie oft ich nun in den letzten vier Jahren wieder davon betroffen war, aber ich würde schätzen zwischen 15-20 Mal.


    Vor einem Jahr waren meine Frau und ich in einem Thermalbad. Es war Jagdzeit, ca. 500 Meter von uns entfernt wurde geschossen. Ich verkrampfte wegen den zwei Schussgeräuschen komplett während 30 Sekunden, war unfähig mich zu bewegen.

    So etwas kannte ich als Kind bei Knallgeräuschen, als Erwachener erschreckte ich "nur" oder hatte deswegen auch ab und zu sofort eine Migräneattacke.


    Mich kann man heute relativ einfach "auf den Arm nehmen", ich erkenne nicht mehr, wenn das jemand mit mir macht.


    Nun ich verlerne die erlernten Fähigkeiten immer mehr.

    Es ist nicht schön, es macht mir Angst. Wie weit schreitet dieser "Verfall" weiter voran?

    Aber ich kann nichts dagegen machen, so sehr ich mich auch anstrenge.

  • Lumpi

    "Je mehr und länger ich Menschen und ihr Verhalten beobachtete und analysierte, umso mehr konnte ich ich Vorgehen erkennen, vorausberechnen, was als nächsten kommt aber vorallem, und das ist vermutlich der wichtigste Punkt: ich lernte ihr Verhalten nachzuahmen, sich ihnen anzupassen."

    Hier sehe ich den ersten "Fehler". Es geht nicht um Nachahmung und Anpassung (das mus schief gehen), sondern um eine Transformation. Und die bedingt es, dass man nicht schauspielert, sondern ein anderer wird. Bei mir war das z.B. so: Als 0815-Autist war mir alles wurscht, auf ein Kompliment wie auf eine Beleidigung reagierte ich schulterzuckend und es war mir total Wurst. Ich war nur in meiner eigenen kleinen Welt. Nun hätte ich natürlich von anderen "abschauen" können und wahlweise "Danke" oder "F**** dich selbst du Ar***" sagen, je nachdem was es ist - ohne aber etwas zu fühlen. Ich habe einen anderen Weg gewählt: Ich begann Übergangsweise, die Realität wie ein Computerspiel zu betrachten (wenn ich diese spielte, konnte ich auch als Autist enervt sein/Ärger/Freude etc). Und mit den Zielen, die ich mir setzte, empfand ich dann auch bei Menschen (äquvivalent zu einer Spielfigur) die passenden Emotionen wie "normale Leute" auch. Genauso lernt ja auch ein Kind. Es ist also ein zwei Punkte-Programm: Verstehen und dann Emotionen entwickeln (Die Spielfigur [real: mein Sitznachbar in der Klasse] Peter nennt mich Arsch. Ich verliere das Spiel "Keiner darf mich beleidigen!" Boah das macht mich wütend!....) . Und mit jedem "Level" gibt es eine Komplexität und Emotion dazu.

    "Mit 35 Jahren begann etwas, was bis heute andauert. Es ist eine Mischung aus "ich werde immer feinfühliger""

    Diese extreme übersensible feinfühlige Phase hatte ich auch. Und zwar so stark, dass ich zwei Jahre lang quasi nicht mal mehr die Wohnung verlassen habe - bis auf Einkäufe und Familienbesuche.
    Ich habe mir dann überlegt, was eigentlich dahinter steckt und dann ging mir irgendwann ein Licht auf - Kontrollzwang. Die übertriebene Sensibilität und Feinfühligkeit ist ja nichts anderes als der (unbewußte) Wunsch, alles wahrnehmen, analysieren und anschließend möglichst KONTROLLIEREN zu können. Doch wie damit brechen? Im Alltag schwierig. Das Gehirn ist nicht so einfach zu überlisten. Also entschied ich mich für eine Radikalkur: 3 Wochen Afrika Individualurlaub. Warum? Weil das (wenn man wie ich das gemacht hab sich auch mit fremden Einheimischen trifft, in Slums geht etc.) ganz ganz böse enden kann, wenn das Gehirn nicht "im Takt ist". Im Angesicht einer potentiellen Todesgefahr aber kommt das Gehirn wieder in den Takt (ähnlich wie eine Mutter mit Kindern, die im Angesichts einer Bedrohung ihres Nachwuchs plötzlich instinktiv "unmenschliche Kräfte" entwickelt, obwohl sie sich sonst schwach und wehrlos glaubte). Ich konnte mein Unterbewußtsein fühlen...wie es anfangs noch versuchte den üblichen Kontrollmodus hochzufahren, aber angesichts von Millionen neuer Reize quasi "kollabierte" und mich in einen "coolen" Modus versetzte. Cool im Sinne von: Vorbereitung und Vorsicht sind extrem wichtig in Afrika, aber ebenso braucht es eine gewisse Gelassenheit, weil man in so einem Land eben nie alles kontrollieren kann.

    Diese Gelassenheit habe ich behalten, ich fliege mittlerweile regelmässig nach Afrika - entspannt! ;)