Asperger-Diagnose trotz Empathie

  • Hallo zusammen


    Mein Mann wurde vor ein paar Wochen abgeklärt in Bezug auf Autismus. Das Ergebnis war, dass er kein Autismus habe, weil er quasi "zu viel" Empathie hat. Nun habe ich aber schon etliche male gelesen, dass es durchaus auch die Ansicht gibt unter Fachleuten, dass Asperger sehr wohl Empathie erlernen können. Da ich aufgrund seines Verhaltens und seiner Denkstrukturen nach wie vor der Überzeugung bin, dass er Aspergee ist, möchten wir gern nochmals einen Abklärungsversuch starten. Frage wäre nun, ob es hier Leute gibt die "trotz" Empathie eine Diagnose erhalten haben und wo man die entsprechenden Fachleute findet, welche diese Auffassung vertreten und entsprechend diagnostizieren.

    Bi

  • Hallo


    Ich meine, eine der Ursachen, weshalb man Autisten öfters/oft die Fähigkeit für Empathie abspricht beruht darauf, weil man früher aus der Aussenperspektive (beobachtend) zum Schluss kam, dass sich Autisten nicht in anderen Menschen und deren Bewusstseinsvorgänge hineinversetzen könnten (ToM, Theory of Mind, eine kurze Erklärung -> hier ).


    Jeder Mensch ist der Empathie fähig. Der eine mehr, der andere weniger.

    Viele Faktoren können die Empathiefähigkeit zudem situativ stark beeinflussen.


    Beispiel:

    Kann man von einem Börsenbroker in der Situation Empathie erwarten, wenn er sieht, wie seine Aktien alle gleichzeitig massivst an Wert verlieren?

    Ich denke, nein, kann man nicht.


    Die Umwelt kann für Autisten eine grosse Herausforderung sein. (Zu)viele Reize, soziale Interaktionen, Herausforderungen. Das kann bzw. hat oft auch Auswirkungen auf viele Bereiche, unter anderem eben auch die Empathiefähigkeit bzw. diese dann auch entsprechend nach aussen signalisieren zu können.


    Ob man Empathie (wirklich) erlernen kann?

    Allgemein: Durch beobachten, analysieren, Rückschlüsse ziehen, selbst versuchen, erfolgreich sein/scheitern lernen Menschen, egal ob Autist oder Nichtautist.


    Die Mehrzahl der Autisten, mit denen ich verkehre sind sehr gute Beobachter, sie analysieren meist auf der Sachebene und ziehen aus diesem Prozess ihre Schlüsse.

    Durch ihre Art, manchmal schnörkellos und geradeaus ihre Meinung zu sagen (die sozialen Regeln "missachten"), fallen sie zuweilen auf und werden schnell als gefühlslos/taktlos/empathielos eingestuft.

    Dabei erlebe ich sie als sehr empathisch.



    Einiges an Lesestoff:

    - Erlebniswelten (von einer Autistin)

    - The double empathy problem

    - People with Autism Can Read Emotions, Feel Empathy

    - Empirical Failures of the Claim That Autistic People Lack a Theory of Mind

  • Danke für eure Antworten und den Lesestoff.

    Makram hab ich gerade letztes Wochenende gelesen. Das von dir, Lumpi, les ich dann heute Abend noch genauer.


    Mit der Diagnose ist das so: ich brauche sie eigentlich nicht. Selbst wenn unsere Selbstdiagnose falsch wäre, weiss ich dass es hilft, wenn ich ihm als Asperger begegne. Es ist aber so, dass ich froh wäre diese Erkenntnis mit unserem Umfeld teilen zu können in der Hoffnung, möglicherweise einige soziale Situationen etwas zu entschärfen. Mein Mann ist dem nicht grundsätzlich abgeneigt, er möchte aber davor die Bestätigung einer Fachperson haben, dass er wirklich Asperger ist. Ich vermute er braucht diese Bestätigung auch ein Stück weit für sich selber, um sich wirklich sicher sein zu können, dass er (endlich) eine Erklärung für viele Schwierigkeiten hat.

    Unter Umständen werde ich einfach bei verschiedenen Diagnosestellen anfragen wie ihre Haltung in Bezug auf Empathie ist und dann so jemanden aussuchen, wo wir das Gefühl haben es passt.


    Liebe Grüsse bscmom

  • Ja doch, das ist schon nachvollziehbar, die Sache mit der Diagnose...leider kenne ich mich mit Fachstellen für Erwachsene nicht aus, aber vielleicht kann Dir die Beratungsstelle von Autismus deutsche Schweiz noch einen Tipp geben?

    Alles Gute!

  • Ich wurde als Erwachsene in St. Urban abgeklärt.
    Das mit der Empathie hat mich ziemlich beschäftigt... ich soll als Aspi gemäss Diagnose nicht empathisch sein?! Und bis heute verunsichert mich das. Ich hatte damals weiter nachgefragt, wie es sich damit verhält.
    (Dabei hatte ich Beispiel genannt, wo ich meine Mitmenschen besser gespürt habe, als sogenannte NTs. Wiederum gibt es schmerzliche Beispiele aus meinem Leben wo es mir bis heute nicht klar ist warum die Mitmenschen sich so verhalten haben.)
    Das war noch vor der Zeit (2014) als das Buch über Kai Markram erschienen (2018) ist. Die Autismusspezialistin sagte mir dann (nach dem sie mich für quasi sozial unfähig / beschränkt oder wie auch immer deklariert hatte) es gäbe unterschiedliche Arten von Empathie. Bei Menschen mit Asperger Syndrom sei es eine Art kognitive Empathie - während NTs auf eine Art intuitiv empathisch seinen. Und sie beobachte, dass Menschen mit ASS untereinander durchaus sehr empathisch fühlend sein könnten (aber sich eben mit NTs nicht so gut verstehen würden). Naja wäre interessant, was sie heute dazu sagen würde.

    Das Buch über Kai habe ich übrigens gelesen, als es frisch herausgekommen ist. Es war zumeist sehr wohltuend, da es meine Zweifel an der gängigen Theorie bestärkte. Andererseits hat es einige wenige Punkte die ich kritisch betrachte.


    Das Rätsel ist noch nicht gelöst, und wird sich vermutlich auch nicht lösen. Der Mensch ist ein komplexes Wesen. Ich versuche so gut wie möglich durch den Alltag zu kommen und beobachte weiter wie es sich mit dieser Frage verhält.

  • Das mit der Empathie ist ein Thema, bei dem ich ebenfalls nicht weiterkomme und ich seit Längerem immer wieder nach Literatur suche. Ich hege da ebenfalls meine Zweifel. Die Unterscheidung zwischen kognitiver und emotionaler Empathie leuchtet mir ein. Seit Markram ist (hoffentlich) unbestritten, dass AutistInnen emotionale Empathie empfinden; so beobachte ich das ebenfalls bei mir selber (mehr als NTs? eben: 'zuviel' fühlen, Gefühle quasi chamäleonartig übernehmen). Aber die Annahme ('Beobachtung'?), die kognitive Empathie (Theory of Mind) bei AutistInnen sei nicht oder nur schwach ausgebildet, scheint mir auf etwas tönernen Füssen zu stehen (und habe dazu bislang auch keine einleuchtende Erklärung, bzw. Beschreibung gefunden, die Annahme scheint lediglich auf den 'false belief'-Tests im Kindesalter zu gründen, was mir eine etwas magere Grundlage dafür scheint). Ich denke, ich kann mich als Asperger schon ungefähr in andere hineinversetzen, selbst in NTs - aber ob dies erlernt ist oder, wie dies bei NTs behauptet wird, 'intuitiv' erfolgt, kann ich angesichts meiner 52 Jahre nicht mehr unterscheiden (und krame da hin und wieder in Erinnerungen, wie das als Kind war, bisher leider erfolglos...).