Eignungsabklärung

  • Bei meinem 15jährigen Sohn wurde erst in diesem Sommer Asperger diagnostiziert. Die Lehrstellensuche wird wegen Corona und Tims Schwierigkeiten erschwert. Die IV hat uns zwar eine Erstausbildung zugesichert. Aber nach dem vergangenen Dienstag verstehe ich die Welt nicht mehr. Vielleicht kann mir jemand weiterhelfen?

    Tim musste zu einem Eignungstest in einem Institut antreten, welches nebst "normalen" Lehrstellen auch IV-Lehrstellen anbietet. Tims Wunschberuf ist Mediamatiker und wir Eltern sind davon überzeugt, dass Tim seine Fähigkeiten voll einbringen kann - bis auf gewisse soziale Kontakte. Mit dem Institut hatte ich vorher schon mehrmals Kontakt. Sie wussten, dass Tim Asperger ist. Mitte Nachmittag bekam Tim die Aufgabe, ein Grossraumbüro mit ungefähr 30 Mediamatiker-Lehrlingen zu betreten und diese zu fragen, ob er ihre Schuhe fotografieren dürfe. Eine Aufgabe, die Tim nicht bewältigen konnte. Der Betreuer (Zuständig für die berufliche Eingliederung) beharrte stur auf dieser Aufgabe und bot ihm keine Alternativen an. Er lachte Tim aus (Tims Wahrnehmung) und teilte ihm mit, dass er die IV-Lehrstelle nicht bekäme, wenn er diesen Auftrag nicht erfüllen würde.

    Aus den Fotos hätte Tim eine Präsentation erstellen sollen, um diese dann vorzutragen. Tim hätte sich dies hingegen zugetraut, denn er hält in der Schule Vorträge trotz Asperger. Tim musste fast zwei Stunden absitzen bis man ihn entliess. Dies ohne Begründung für diesen - aus meiner Sicht - unmöglichen Auftrag. Keine aufbauenden Worte, nur eine Drohung, weil der Eignungstest nicht abgeschlossen werden konnte.

    Ich verstehe die Welt nicht mehr. Die IV äusserte sich schon so, dass Mediamatiker für Asperger ungeeignet wäre. Ich bin anderer Meinung. In jeden Beruf gäbe es etwas, was Tim nicht liegen würde. Aber man sollte doch auf den Stärken aufbauen und nicht die Schwächen hervorheben.


    Nach Rücksprache mit Tims Psychologin schrieb ich die Dame von der IV an, dass wir gerne auf das Auswertungsgespräch verzichten würden und das Verhalten vom Betreuer inakzeptabel wäre. Die Antwort war: "Wir haben miteinander abgemacht, dass der Eignungstest durchgeführt wird. Das Auswertungsgespräch gehört dazu und ich bestehe auf dieses Gespräch mit Teilnahme Ihres Sohnes."


    Ich bin verärgert und verstehe nicht, weshalb mein Sohn von einer Eingliederungsperson so behandelt wurde. Und die IV zeigt null Verständnis.
    Welche Erfahrungen habt Ihr gemacht?

  • Liebe Hoffnung05,


    Hier ist finde ich extrem viel schief gegangen.


    Anforderungen an die Stelle sind beschrieben wie folgt.

    • schnelle Auffassungsgabe
    • abstrakt-logisches Denken
    • technisches Verständnis
    • Kreativität
    • Kommunikationsfähigkeit
    • Organisationstalent
    • ausgeprägte Teamfähigkeit
    • Einfühlungsvermögen
    • Konzentrationsfähigkeit
    • gute Leistungen in Englisch und einer zweiten Landessprache


    Kommunikationsfähig ist er garantiert wenn du sagst er hätte die Präsentation gehalten und dazu gehört ja auch am Ende Fragen zu beantworten. Das hätte man also auch wunderbar auf diese Art testen können. Ich würde mich auf dieses Gespräch vorbereiten und fragen weshalb es nicht möglich war ihm die Präsentation zu ermöglichen, diese hätte er ja auch mit Bildern von Schuhen aus dem Internet vorbereiten können. (technisches Verständnis prüfen) Ich bin mir sicher im Bereich Konzentration, Organisationstalent und abstrakt-logischen Denken hätte er richtig super abgeschnitten. Da kann man es verkraften wenn er sich im Bereich Kommunikationsfähigkeit verhält wie ein durchschnittlicher Teenager. ;) Man hat oft bei Vorstellungsgesprächen oder auch bei Probearbeiten nur wenig Zeit um einen Kandidaten gut kennen zu lernen. Dabei prüft man oft verschiedenste Aufgabenbereiche ab, um zu erkennen wo die verschiedenen Stärken und Schwächen eines Kandidaten liegen. Dann kann man bei mehreren Kandidaten abwägen welchen man bevorzugt.


    Ich würde dir raten übe mit ihm Vorstellungsgespräche und bewerbt euch ungeachtet des Ergebnisses auf eine Lehrstelle, wenn er weiss, dass er diesen Job später machen möchte, dann bekommt er das auch hin. Und wenn diese Art von Aufgaben wirklich relevant sind für die Ausbildung, dann kann er das lernen, das musste ich auch. Ich habe früher auch so gut wie nie den Mut gehabt auf andere zuzugehen. Mit konkreten (und sinnvollen) Aufgaben / Fragen hat das aber immer funktioniert insbesondere da ich wusste, dass der Gegenüber weiss wovon ich spreche. Ich arbeite übrigens als Softwareentwicklerin (Mein Traumjob), obwohl ich Betriebswirtschaft studiert habe. Ich hätte das aber nie geschafft, wenn mein Partner der ebenfalls Softwareentwickler ist, und gesehen hat was ich schon kann, mich nicht ermuntert hätte mich überhaupt zu bewerben. Man selbst fokussiert sich viel zu sehr auf die Dinge die man (noch) nicht kann als die Dinge die man sehr gut kann und die vielleicht sogar am wichtigsten sind für einen Arbeitgeber. Das wichtigste ist wirklich, dass du ihn unterstützt und Mut machst. Fang wegen soetwas bitte nicht an zu zweifeln, du kennst ihn am Besten. Er soll sich nicht unterkriegen lassen! Ich selbst habe diverse Lehrlinge betreut auch im Bereich der Applikationsentwicklung und viele Teenager haben in dem Alter noch Hemmungen auf Kollegen zuzugehen, geschweige denn auf Wildfremde. Das ist etwas das sie im Verlauf der Lehre lernen und das sich üben lässt.


    Lasst den Kopf nicht hängen und alles Gute für die Zukunft,


    viele Grüsse


    Anonyma

  • Hallo


    das hilft dir wahrscheinlich nicht weiter, aber mir fehlen die Worte... Die Ignoranz der IV sowie des sogenannten Betreuers ist ja wohl grenzenlos... Dass man als Asperger genau diese Aufgabe (auf die Leute zugehen und die Schuhe fotografieren) nicht lösen kann (könnte ich als Erwachsener, der Jahre mit 'Maskierungs-' und Konditionierungsbemühungen verbracht hat, nicht mal...) sollte jedem und jeder, der auch nur einmal ein Auge auf die Fachliteratur geworfen hat oder mit AutistInnen zu tun gehabt hat, sofort einleuchten... Das ist quasi die Super-GAU-Aufgabe, mir wird schon bei der Vorstellung schlecht.

    Ich für mich habe auch meine eigene IV-Geschichte, aber ich glaube die hilft hier nicht weiter, weil sie ganz anders gelagert ist. Dennoch: aufgrund dieser wundern mich eure Erfahrungen eigentlich nicht... wohl aber hätte ich geglaubt, dass sich in den letzten Jahren ev. etwas zum Guten entwickelt hätte... Aber ich möchte euch keinesfalls entmutigen.

    Ich wünsche euch, dass sich ein Weg für deinen Sohn eröffnet (ev. in einem 'normalen' Betrieb, der ein offenes Ohr für die Asperger-spezifischen Bedürfnisse hat, Reizüberflutung im Grossraumbüro ist ja vorprogrammiert...). Vielleicht könnte Pro Infirmis oder eine Autismus-Organisation wie autismus.ch weiterhelfen. Oder auch die Abklärungsstelle/PsychiaterIn, wo dein Sohn diagnostiziert wurde. Allenfalls gibt es Verzeichnisse von Autismus-freundlichen Lehrlings-Betrieben. Alles Gute euch und viel Kraft. Thomas

  • Liebe Anonyma
    Lieber Thomas

    Bitte entschuldigt, dass ich bis anhin nicht geantwortet habe. Ich habe wenig Erfahrung mit Foren. Daher dachte ich, dass ich eine E-Mail erhalten würde, sobald jemand auf meinen Eintrag antwortet. Dem war nicht so. Nach der niederschmetternden E-Mail der IV habe ich jetzt wieder ins Forum geschaut. Herzlichen Dank für Eure aufbauenden und mitfühlenden Worte!

    Die Auswertung der Eigungsabklärung ergab, dass mein Sohn und wir Eltern uns gar nicht mit dem Beruf Mediamatiker und auch sonst nicht mit verschiedenen Berufen auseinander gesetzt hätten. Dies ist absolut lächerlich und ich fühle mich veräppelt. Sämtliche Berufe/Lehren hatten wir durchgekämmt und uns sehr intensiv mit den Berufsbild Mediamatiker beschäftigt.
    Die Auswertung zeigt, dass der Leiter Berufliche Massnahmen des Berufsbildungscentrums Bern überhaupt keine Ahnung von Asperger hat. So schreibt er: "In den berufsspezifischen Aufgaben liess T.C. die von ihm ins Feld geführte Kreativität vermissen." und "Offen formulierte Aufträge, die Kreativität und Phantasie anregen sollen, sind für T.C. sehr schwierig." Ich verstehe einfach nicht, weshalb dieser Betreuer nicht begreift, dass Asperger klare Aufträge benötigen und dass in Stress-Situationen Kreativität für ein Aspi fast unmöglich ist. Wir erleben unseren Sohn als extrem kreativ.
    Die IV ist jetzt aufgrund der Eignungsabklärung nicht bereit, dass Tim in einer geschützten Werkstätte Mediamatiker schnuppern kann. Der Beruf wird nun als ungeeignet erachtet. Wir Eltern sind aber nach wie vor der Überzeugung, dass dieser Beruf die grösste Möglichkeit bieten würde, damit Tim irgendwann mal selbständig sein kann. Wir kennen ihn ja mittlerweile fast 16 Jahre. Die IV-Beraterin und der Leiter des Bbc ja nur ein paar Stunden. Aber die entscheiden über die Zukunft.... unverständlich!
    Liebe Grüsse

  • Hallo


    vielen Dank für deine Antwort. Es wundert mich ja überhaupt nicht, dass der genannte Leiter überhaupt keine Ahnung von Autismus hat... Falscher kann man für Asperger die Aufgaben in jeder Hinsicht gar nicht stellen... Ich weiss zuwenig vom Berufsbild des Mediamatikers, vielleicht könntet ihr dennoch der IV darlegen, warum ihr diesen Beruf nach eurer genauer Analyse als gerade für euren Sohn als sehr geeignet erachten (falls es eine Rekursmöglichkeit gibt). Ansonsten Hilfe beiziehen durch Organisationen wie Inclusion Handicap, Pro Infirmis etc. (die alle einen guten Rechtsdienst haben).

    Alles Gute weiterhin trotz allem, lasst euch nicht entmutigen!

    Thomas

  • Hallo Thomas

    Einmal mehr Danke für dein Antwort! Irgendwann beginnt man an sich selber zu zweifeln. Da tut es gut, von anderen zu hören, dass man mit der Beurteilung der Aufgabenstellung nicht falsch liegt.

    Hatte heute ein gutes Gespräch mit einer Person von autismuslink.ch . Auch sie kam zum Schluss, dass der Leiter keine Ahnung von Asperger hat. Nun fragt sich: Wie weiter? Mal schauen.

    Liebe Grüsse

    Corinne

  • Hallo Hoffnung05,


    ich kenne euer Problem ein bisschen. Nach Abschluss meines Physik-Bachelors habe ich gemerkt, dass mich die damit verbundenen Berufe aber überhaupt nicht interessieren. Ich habe erkannt, dass ein sozialer (!) medizinischer Beruf viel mehr meinen Leidenschaften entsprechen. Also bewarb ich mich um Hebamme zu werden und wurde abgelehnt, mit der Begründung Asperger-Autisten seien nicht in der Lage 1. der sozialen Komponente ausreichend Beachtung zu schenken, 2. auch in Notsituationen schnell und zielgerichtet zu handeln und medizinische Verantwortung zu tragen.


    Auf diese freche Absage hin habe ich (und das könnte für euch auch eine Möglichkeit sein), Kontakt zur Rechtsberatung einer Gewerkschaft aufgenommen. Die ist kostenlos für Mitglieder. Einer der Gewerkschaftsanwälte hat darauf hin ein offizielles Schreiben aufgesetzt und deren Bescheid mit dem Antidiskriminierungsgesetzen und anderen zerpflückt. Allein dieses Schreiben hat gereicht, keine Woche später hatte ich einen positiven Bescheid im Briefkasten.


    Soweit muss es auch gar nicht kommen, ihr könnt diese Möglichkeit in Anspruch nehmen, aber auch wenn ihr das nicht über diesen Weg lösen wollt, die Beratung allein hilft schon ungemein, denn die kennen sich mit diesen juristischen Grundlagen, etc echt gut aus.


    Ich hoffe ihr könnt die Situation lösen, es ist echt ein scheiß Gefühl deshalb abgelehnt zu werden. Aber gebt nicht auf, es ist toll wenn man die Hindernisse überwunden hat und endlich zeigen kann was man kann!


    Liebe Grüße

    Fenja