Guten Tag alle zusammen,
ich wollte nach (Fach-)wissen und praktischen Erfahrungen zu bestimmten Aspekten des Themenkomplexes „Belohnungssystem/Verstärkersystem“ fragen. Vor allem geht es mir um die Frage, inwieweit neben dem Fokus auf positive Verhaltensunterstützung es trotzdem sinnvoll sein kann, zusätzlich auch sanktionierende/“strafende“ Maßnahmen zu integrieren. Ich habe hier auch schon eigene Einschätzungen entwickelt, aber wäre für Austausch und verschiedene Perspektiven dankbar. Ggfs. korrigiere ich bestimmte Einschätzungen. Hier kommen erst einige einführende Beschreibungen, unten dann die Fragen fettgedruckt.
Vorausgeschickt: Ich bin ein Einzelfallhelfer und arbeite mit einem Jungen (9 Jahre alt) aus dem Autismusspektrum. Diagnose: frühkindlicher Autismus, allerdings zum Beispiel verbal und es liegt keine geistige Behinderung vor. Besucht eine Spezialschule für Autisten (mit Unterrichtsinhalten auf Regelschulniveau). Er ist ein grundsätzlich liebenswürdiges Kind, hat jedoch die Schwierigkeit, in herausfordernde Verhaltensweisen zu rutschen (vor allem: Schlagen auf den Arm oder Körper des Gegenübers), wenn er frustriert oder wütend ist sowie um seinen Willen durchzusetzen (wobei ich glaube, das auch Letzteres unter „Wut“ summiert werden könnte, weil er ja „wütend“ wird, wenn sein Wille nicht umgesetzt wird).
Ich schreibe hier bewusst von „Frustration“ (zum Beispiel nach Verlieren bei Spielen oder wenn er mit etwas unrecht hatte) und „Wut“, weil ich nach all meinen Beobachtungen zur Ansicht gelangt bin, dass das in Rede stehende Verhalten in den Bereich des stärker kontrollierbaren Verhaltens gehört. (Es gibt ja die bekannte Unterscheidung grob zwischen nicht kontrollierbaren Meltdowns zum Beispiel aufgrund von Routinebrüchen oder sensorischer Überlastung und eben stärker kontrollierbaren Wutanfällen). Mit dieser Einschätzung kann ich natürlich falsch liegen, aber ich setze das als Prämisse meiner Frage jetzt einfach mal voraus.
Nun arbeite ich seit einigen Monaten mit einem Belohnungssytem/Verstärkersystem. Es müssen aktuell acht Token (in diesem Fall: Smileys) in 3 Stunden Einzelfallhilfetermin gesammelt werden, damit es am Ende eine kleine Belohnung gibt. Mit Token versehen tue ich aktuell vor allem Momente, die den geschilderten unerwünschten Verhaltensweisen entgegenstehen, das heißt: zum Beispiel Momente, in denen ich spüre, dass er zwar wütend ist, es aber irgendwie geschafft hat, seine Wut zu kontrollieren. Oder Momente, in denen einfach positives Verhalten gegenüber Mitmenschen gezeigt wird, zum Beispiel wenn er im Bus seinen Platz für jemand anderen freimacht oder Ähnliches.
Um das auch noch zu sagen: Durch Verwendung dieses System will ich grundsätzlich den Blick aufs Positive lenken und nicht aufs Negative. Ich verstehe es außerdem als Feedbacksystem, also als Möglichkeit, dem Jungen durch Verteilen von Smileys direkt zu vermitteln, welche Verhaltensweisen erwünscht sind (das ein Kind das intuitiv von sich aus weiß, kann man bei autistischen Kindern eben nicht automatisch voraussetzen. Manche können das natürlich durchaus, ich will hier jetzt nicht alle Autisten über einen Kamm scheren). Ich versuche es mit einem Augenzwinkern zu handhaben und kombiniere jedes Verteilen mit sozialem, also zwischenmenschlichem Lob und spreche mit ihm darüber, was ich gut fand. Das freut ihn auch, auch besitzt er ein normales bis hohes Reflexionsvermögen und kann die Erklärungen gut annehmen. Zudem muss ich sagen, dass ich grundsätzlich sicherstelle, dass er seine acht Smileys vollbekommt. Bei manchen Terminen ist es so, dass es gar nicht genug Anlässe gäbe für lauter „positive Verhaltensweisen“. Trotzdem macht er zu solchen Terminen ja nichts falsch und soll dann bitteschön auch seine kleine Zuwendung am Ende bekommen. Da helfe ich dann flexibel nach und lobe eben auch kleinste Kleinigkeiten etc. bzw. erkläre ihm, dass es unfair wäre, wenn er nicht alle Smileys an dem Tag bekäme. Versteht er dann auch alles.
Kommen wir langsam zu dem, was mich an Themen und Fragen so beschäftigt: und zwar hatte ich mich irgendwann gefragt, was denn ist, wenn zum Beispiel alles gut lief während des Termins und der Junge vielleicht sogar seine acht Smileys schon voll hat, er mich dann aber zu einem Anlass schlägt. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das Schlagen aus pädagogischen Gründen dann irgendeine Konsequenz haben muss, damit der Junge mit der Zeit Grenzen einzuhalten lernt. (Wohlgemerkt alles unter der Prämisse, dass sein Verhalten in den Komplex des kontrollierbaren oder zumindest kontrollierbareren Verhalten einzuordnen ist sowie dass der Junge über ausreichend Reflexionsvermögen besitzt, die Vereinbarungen zu verstehen. Meine These ist auch, dass dieser Aspekt für die Konzeption von Belohnung/Bestrafung durchaus relevant ist. Sprich: wenn es sich um ausschließlich unkontrollierbares Verhalten handelt und auch wenn das Reflexionsvermögen eingeschränkt ist, würde ich einen Teufel tun, negativ zu sanktionieren. Hier ausschließlich positive Verstärkung. Ist an der These was dran?) Bzgl. Konsequenzen gäbe es verschiedene Möglichkeiten:
- Rücknahme von Smileys (das nennt sich dann response-cost-Prinzip, soweit ich weiß). Finde ich tendenziell fragwürdig.
- Beibehaltung der Smileys und der sich erarbeiteten Belohnung, allerdings zusätzlich eine negative Konsequenz außerhalb des Belohnungssystems. Beispiel: die vereinbarte Belohnung – sagen wir mal rein hypothetisch eine Legofigur – wird aufgrund der ausreichend gesammelten Smileys ausgezahlt. Wegen des Schlagens aber erfolgt zusätzlich irgendeine Art der kleinen „Bestrafung“, sei es, dass er irgendwas nicht bekommt, was er sonst bekommen würde.
- Die sich erarbeitete Belohnung wird einkassiert. (Das ist das, wofür ich mich entschieden habe, s.u.)
- Natürliche Konsequenzen (natürlich immer am besten, im Falle des Schlagens aber schwierig zu finden)
Ich hatte erst zu nr. 2. (Beibehaltung der Belohnung/zusätzliche externe negative Konsequenz) tendiert.) Allerdings ist unser Termin so kurz, dass sich da kaum was Zusätzliches finden ließ, was sich zur „Strafe“ etwa hätte streichen lassen.
Ich habe dann mir selbst die Variante der nr. 3 erdacht. Wohlgemerkt mit Zwischenstufen. Man muss wissen, ich hatte als Belohnung eine zweigliedrige Schokolade mit dem Jungen vereinbart. Nun war die mit dem Jungen vereinbarte Konsequenz bei Schlagen, dass er pro Schlagen einen Strafstrich (auf der Rückseite! des Belohnungssystems) erhält. Ein Strafstrich bedeutete: nur noch die Hälte der Schokolade. Bei zwei Strichen dann entfällt sie komplett.
Mein Gedanke war, dass Schlagen derart gravierend ist, dass es gerechtfertigt ist, alles bis dahin erarbeitete Positive hinfällig werden zu lassen, also die Belohnung trotz aller gesammelter positiver Smileys etc. zu streichen. Das alles mit dem Hintergedanken, dass irgendeine Konsequenz ja erfolgen MUSS und dass die gravierende Reaktion auch die in der Realität unserer Gesellschaft gravierenden Konsequenzen solcher Handlungen widerspiegelt und daher vermittelt werden sollte, und mit dem pädagogischen Problem, dass ich eine externe zusätzliche negative Konsequenz gemäß nr. 2 nicht gefunden habe.
Was mir dann irgendwann aufgefallen ist, ist, dass es sich bei der von mir verwendeten Kombination aus Belohnungssystem und Strafstrichsystem von der inneren Logik her im Grunde um ein „Minus-Punkte“-System handelt, bei dem dann belohnt wird, wenn ein unerwünschtes Verhalten NICHT gezeigt wird. Man könnte sagen, ich habe mit meinem System eine sonderbare Mischung aus klassischem Belohnungs-Token-system und Minus-Punkte-System geschaffen.
Es entstehen für mich verschiedene Fragen:
1. Stimmt meine oben bereits fett markierte These bzgl. unterschiedlicher Herangehensweise je nach Grad der Kontrollierbarkeit des Verhaltens sowie des Reflexionsvermögens?
2. Sind Sie oder seid ihr mit mir grundsätzlich einer Meinung, dass zumindest bei manchen Kindern neben aller positiven Verstärkung auch Grenzziehungen dadurch vermittelt und trainiert werden sollten, dass auch negativ „bestraft“ wird?
3. Von den von mir oben aufgestellten vier Varianten der „Bestrafung“: Wie stehen Sie/wie steht ihr dazu? Sind sie allesamt zulässig, ist irgendeine Variante ein komplettes NoGo? (Vielleicht ja auch die von mir konzipierte Variante) Welche ist am besten? Vor allem: falls eine „Strafe“ erfolgen sollte, was ist besser: komplette Beibehaltung des Belohnungssystems inklusive Belohnung bei zusätzlicher, also externer „Bestrafung“? Ist es nicht pädagogisch fragwürdig, etwa eine Belohnung für gesammelte Smileys auszuzahlen, obwohl geschlagen wurde? Oder aber „Bestrafung“ innerhalb des Belohnungssystems, dann eben durch Wegfall eben der Belohnung. Dadurch wird dann eben darauf reagiert, dass geschlagen wurde. Meine These ist wie gesagt, dass man dann im Grunde ein Minus-Punkte-System vorliegen hat.
4. Wenn Sie, wenn ihr das von mir Beschriebene falsch finden/t, aber trotzdem an die Notwendigkeit auch von Konsequenzen/Sanktionierungen/Strafen (wie auch immer) glauben, wie lässt sich das dann anders umsetzen?
5. Finden Sie/findet ihr auch, dass es sich bei dem aktuell von mir verwendeten System der Logik nach um ein Minus-Punkte-System handelt? Und nehmen wir jetzt mal an, so wie ich das mache, ist es ganz okay: folgt daraus eventuell, dass bei autistischen Kindern mit hohem Reflexionsvermögen sowie einer gewissen Kontrollierbarkeit des Verhaltens ein Minuspunkte-System vielleicht sogar angemessener sein kann als ein Belohnungs-Token-System, dass die Auszahlung der Belohnung also wirklich davon abhängig gemacht wird, dass das unerwünschte Verhalten NICHT gezeigt wird?
Es wäre wahnsinnig toll, falls sich jemand mit meinen Fragen beschäftigen würde. Natürlich darf auch gerne geschrieben werden, wenn jemand gänzlich andere Ansätze vorschlagen würde.
Für mögliche Antworten vielen Dank (schonmal im Voraus)!
Manuel Glüer