Mehr anders als andere, - na und?

  • „Warum ist Paul anders?“, fragen die Kinder in der Klasse.


    Die Lehrerinnen sagen: „Verschieden sind wir doch alle.“


    Die Kinder fragen weiter.


    „Wie anders?“ frage ich und erfahre, dass ein Mädchen Paul deshalb besonders mag, weil er, anders wie die anderen Knaben immer lustig und lieb sei.


    „Ist Paul behindert?“ fragen die Kinder. Peinliches Schweigen bei den Gefragten.


    „Was meinst du mit behindert?“, frage ich die Frager und erfahre viel von ihren Vorstellungen über Behinderungen. Ein Knabe meint, dass man dann im Rollstuhl sitzt oder einem ein Bein fehlt. „Wenn man behindert sagt“, erkläre ich, „ist das so, als ob man sagt, es sei jemand krank. Mit dem Wort „krank“ weißt du aber noch nicht, was derjenige hat. Ob er Fieber hat oder Bauchschmerzen oder sonst was… Du weißt dann auch nicht, was ihm helfen würde. Deshalb sind diese Begriffe nicht so hilfreich“.


    Kinder geben sich mit der Antwort, dass wir eben „alle verschieden sind“ nicht zufrieden. Sie fragen weiter. Sie merken, dass es ein „mehr anders sein, als die anderen“ gibt. Sie werten das nicht. Sie möchten aber fragen dürfen. Sie möchten Informationen. Sie sind neugierig. Sie sind zufrieden, wenn sie darüber sprechen dürfen.


    Paul ist von Autismus betroffen. Wir sprechen nicht über den Autismus, sondern über Paul. Wir sprechen nicht über den Autismus, sondern über die Vorstellung, die die Kinder über den Begriff „behindert“ haben.


    Die meisten Kinder mögen Paul. Manchmal ist eines über sein Verhalten leicht befremdet. Sie schauen nicht weg. Aber sie schauen mir ab, wie man mit dem Befremdlichen umgehen kann. So wird das normal. Sie wollen aber Paul nicht mögen müssen, nur weil er „behindert“ ist. Sie mögen Paul nämlich auch so, auch wenn er manchmal nervt, wie andere auch.


    Wenn ich erkläre, dass Paul sensible Ohren hat wie ein Hund und ihn deshalb Geräusche oder Töne manchmal schmerzen, begreifen die Kinder, dass er die Kopfhörer aufsetzt. Das ist normal. Niemand findet es seltsam, dass Paul hie und da die Kopfhörer aufsetzt. Manchmal springt eines und holt sie ihm. Manchmal leiht sich ein Kind die Kopfhörer von Paul aus, weil es ihm auch zu laut ist.


    Die Kinder sind neugierig auf den besonderen Arbeitsplatz von Paul. Sie verstehen, dass er so besser arbeiten kann. Ein Junge der Rückenschmerzen hat, leiht sich das Keilkissen von Paul aus, da dieser sein Arbeitsplatz gerade nicht braucht. Die Rückenschmerzen gehen weg.


    Paul kann man fragen, wenn man etwas richtig schreiben möchte. Und er malt die schönsten Bilder. Und Paul ist jetzt die Nummer 2 im Rechnen! Da sind sich die Kinder einig. Früher war das anders. Aber die Kinder wissen, dass in Paul’s Kopf manchmal lange eine Baustelle ist. Wenn aber fertig gebaut ist, dann hat er eine Super-Autobahn im Kopf. Die Kinder sind geduldig mit Paul. Sie müssen sich dafür nicht anstrengen.


    Paul ist etwas mehr anders als andere. Na und? Paul gehört einfach dazu.



    Ich wünsche mir, dass wir das Dogma brechen können, dass „anders sein“ normal sein muss.


    Ich wünsche mir, dass wir alle gegenseitig den Mut haben, zu fragen und für die Antworten offen und unvoreingenommen sein können.


    Ich wünsche mir, dass wir so alle miteinander unterwegs sind.



    Eva Salber,


    Integrationsbegleiterin Primarstufe, Buchautorin und Kursleiterin


    - Beitrag zum internationalen Tag des Autismus - 2.4.2011