10. Juni 2004 - Tagebucheintrag

  • Zitat

    Wann beginnt das Alter für einen autistischen Menschen? Das kann sehr unterschiedlich sein. Wenn jemand aufgegeben wurde, niemand mehr an einen Fortschritt glaubt, dann bedeutet das, dass Probleme vorhanden sind, die Problemen alter Menschen nicht unähnlich sind. Nur hat ein gesunder alter Mensch seine Erinnerungen, die er zurück rufen kann. Manche autistische Menschen scheinen nicht einmal Erinnerungen zu haben. Wenn man sich das klar macht, während der autistische Mensch noch jung ist, müsste man alles daran setzen um diesem Menschen Erlebnisse zu verschaffen, an die er sich erinnern kann. Das erfordert aber eine gute Begleitung. An ein Chaos kann man sich nur ungenau erinnern. Erlebtes muss also geordnet werden, wenn es einmal der Erinnerung zugänglich sein soll. Man muss sich doch vorstellen, dass der autistische Mensch wegen seiner Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen nur ungenau wahrnimmt, was er erlebt. Es ist notwendig, dass jemand das Erlebte sprachlich begleitet und kommentiert.
    Ich selbst lebe stark in meinen Erinnerungen. Wenn ich in den langen Ruhephasen, die ich brauche, nicht in meinen Gedanken produktiv bin, dann lebe ich in meinen Erinnerungen. Vor allen Dingen sind es Reisen, an die ich gern zurück denke. Weil diese Reisen gut vorbereitet und noch besser nachbereitet waren, klappt das Erinnern sehr gut. Es gibt zu allen Reisen Reiseberichte, Texte, die ich schrieb, und viele Bilder. Meist habe ich auch Bilder aus Prospekten ausgeschnitten. Was ich geschrieben und bearbeitet habe, habe ich gut im Gedächtnis, weniger die Originalbilder, die verblasst sind. Es wird mir, während ich dieses schreibe, bewusst, dass ich mich an das erinnere, was ich im Nachhinein verarbeitet habe. Vielleicht hätte ich gar keine genauen Erinnerungen ohne diese Nacharbeit.
    Ich habe auch vom Kindesalter an Tagebuch geschrieben bzw. wurde ich dazu angehalten, über das, was ich erlebt hatte, etwas zu schreiben. Was ich erinnere, bezieht sich vermutlich überwiegend auf das, worüber ich geschrieben habe.
    Ich selbst muss keine Angst vor dem Alter haben, weil ich meine Erinnerungen habe. Aber was ist mit den autistischen Menschen, die vermutlich kaum positive Erinnerungen haben? Um diese Menschen mache ich mir Sorgen.

    Zöller, Dietmar (Hrsg), (2006), Autismus und Alter, S. 23-24.