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Aus einem Brief:
„Bei den Aufnahmeverfahren für unsere Tagesstätte in … stellen wir immer wieder fest, dass man Menschen mit ausgeprägtem frühkindlichen Autismus keine besonderen intellektuellen Fähigkeiten zugesteht.
Noch ablehnender reagieren die Ämter, wenn Eltern bei der Einschätzung des Intelligenzniveaus ihrer Kinder auf Erkenntnisse zurückgreifen, die über FC zustande kamen.“
Ob ein nicht sprechendes behindertes Kind geistig behindert ist, kann man nicht leicht feststellen. Hinter Verweigerungsverhalten kann ein normales Lernpotential versteckt sein. Eine vorschnelle Diagnose verhindert, dass dem Kind angemessene Lernangebote gemacht werden. Darum ist Vorsicht bei der Diagnosestellung geboten. Es werden mit dieser Diagnose Weichen für ein ganzes Leben gestellt.
Ein Kind verweigert die Mitarbeit bei Testaufgaben. Es kann sich weder sprachlich, noch mit Gesten verständlich machen. Es verharrt in stereotypen Bewegungen und guckt den Arzt nicht an. Ein Interesse an irgendetwas ist nicht erkennbar. Ich selbst war so ein Fall. In einem ärztlichen Gutachten von 1972 – ich war damals drei Jahre alt- steht: „Es handelt sich um eine schwere geistige Behinderung mit schwersten autistischen Zeichen, basierend auf einer hirnorganischen Schädigung mit Hydrocephalus.“ Ich hatte Glück, dass meine Mutter mit mir eigene Wege einschlug und sich nicht von Autoritäten in weißen Kitteln einschüchtern ließ. Sie unterrichtete mich mit Erfolg, im Jugendlichenalter mit Hilfe eines Fernkurses, der auf die Reifeprüfung vorbereitete. (Ich habe aber nie eine Prüfung gemacht.) In der Sonderschule war ich ein schwieriger Fall. Im Klassenverband hielt ich es oft kaum aus. Meine Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen waren so schlimm, dass ich handlungsunfähig war. Niemand in der Schule war in der Lage zu überprüfen, was ich wirklich konnte. Meine Mutter war es, die herausfand, dass ich leicht lernte, dass ich ein fotografisches Gedächtnis hatte und fast alles behielt. Ich habe Glück gehabt, dass mein Recht auf Bildung eingelöst wurde trotz aller Widerstände. Andere Menschen haben nicht so viel Glück gehabt.
Ich habe Kontakt zu einigen Frauen und Männern aus einem Heim, die mit der Gestützten Kommunikation (FC) kommunizieren. Alle waren mit ca. 10 Jahren in die Einrichtung gekommen und als schwer geistig behindert diagnostiziert worden. Die Überraschung war groß, als offenbar wurde, dass diese Personen lesen konnten und sich autodidaktisch ein beachtliches Wissen angeeignet hatten. Ihnen wurde die Gestützte Kommunikation angeboten, als sie älter als 35 Jahre waren. Unvergesslich ist mir, als eine dieser Frauen in den Computer tippte: „Ich habe so viel versäumt.“ Eine andere Frau schrieb einmal: „Mein Leben ist verpfuscht.“ Alle diese FC-Nutzer sind hospitalisiert und verhaltensauffällig, so dass es nicht verwunderlich ist, dass Mitarbeiter der Einrichtung nicht glauben können/ wollen, dass sie wirklich die Urheber der Texte sind, die sie gestützt schreiben. Wie viele Menschen in Einrichtungen nicht wirklich geistig behindert sind, obwohl sie so klassifiziert wurden, weiß niemand.
Es ist mir ein Anliegen, dass man nicht voreilig Kinder für geistig behindert erklärt. Manch einer wirkt geistig behindert, ist es aber gar nicht. Geistig behindert zu sein ist kein Makel. Aber wenn jemand so diagnostiziert wird, obwohl er über ein Lernpotential verfügt, dann werden ihm Bildungsangebote vorenthalten. Das kann auch bedeuten, dass jemand ein Leben lang wie ein kleines Kind behandelt wird, dass ihm /ihr gegenüber eine Sprache benutzt wird, die man Kindern gegenüber benutzt
Eine lebenslange Unterforderung ist schlimmer als eine Überforderung, die man viel leichter erkennen kann. Gegen Überforderung kann sich ein behinderter Mensch zur Wehr setzen, gegen Unterforderung kaum. Die viel beschriebenen Aggressionen, Autoaggressionen und anderen Verhaltensauffälligkeiten von Menschen, die als geistig behindert oder autistisch diagnostiziert wurden, könnten in manchen Fällen eine Reaktion auf permanente Unterforderung darstellen. Ich fürchte, dass in den meisten Fällen die Tatsache, dass so wenig getan und so schlecht reagiert wird, dazu führt, dass man zu dem Ergebnis Geistige Behinderung kommt.
Ich möchte den Vorschlag machen, dass man Kinder mit Frühkindlichem Autismus nicht zu früh auf eine geistige Behinderung festlegt. Man sollte abwarten, aber genau beobachten, wie das Kind in unterschiedlichen Situationen reagiert. Man sollte unbedingt früh mit dem gezielten Zeigen beginnen. Wenn das klappt, kann man Buchstaben einführen. Man sollte aber erst dann mit dem Schreiben beginnen, wenn die Treffsicherheit der Buchstaben groß ist.
Dietmar Zöller