Es werden aktuell in der Wissenschaft drei wichtige neuropsychologische Theorien genannt, die Besonderheiten der autistischen Informationsverarbeitung erklären sollen: Theory of Mind, Theorie der zentralen Kohärenz und die Theorie der exekutiven Funktionen. Meist sind bei Menschen mit ASS Schwierigkeiten in mehr als einem dieser drei Bereiche zu beobachten. Da die Kenntnis der Theorien das Verständnis für die autistische Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweise erhöht und den alltäglichen Umgang mit Menschen mit ASS erleichtert, werden sie an dieser Stelle genauer beleuchtet.
Theory of Mind
Mit dem Begriff „Theory of Mind“ ist die Fähigkeit gemeint, psychische Zustände (Gefühle und Gedanken) anderer Personen und sich selbst zuzuschreiben, also die Fähigkeit, die eigenen Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten und Vorstellungen und diejenigen Anderer zu erkennen, zu verstehen und vorherzusagen (Remschmidt et al. 2006).
Das Wissen darüber, dass jede Person Gedanken und Gefühle hat und dass diese sich von denen anderer Personen unterscheiden können, bildet die Grundlage für das Verstehen sozialer Situationen (Colle et al. 2006). Die Fähigkeit zur Theory of Mind beginnt sich ca. im Alter von vier Jahren zu entwickeln und differenziert sich in der Folge immer weiter. Zuvor halten Menschen ihre Wahrnehmungen und Gedanken für die einzige Wahrheit. Sie funktionieren egozentrisch. Vorläufer der Theory of Mind in der menschlichen Entwicklung bilden die Fähigkeit zur Imitation, zur geteilten Aufmerksamkeit und zum symbolischen Spiel (cf. Roeyers und Warreyn, 2010).
Studien konnten zeigen, dass bei Menschen mit ASS Defizite in der Entwicklung der Theory of Mind bestehen. Während die mangelnde Theory of Mind bei Menschen mit schweren autistischen Störungen offensichtlich ist, können Menschen mit leichteren autistischen Störungen wie z.B. Asperger-Syndrom dieses Defizit in überschaubaren sozialen Situationen oft gut durch ihre Intelligenz kompensieren. Das Defizit fällt oft erst in realen komplexen sozialen Situationen mit mehreren Beteiligten auf. So werden beispielsweise nonverbale Hinweisreize (Prosodie, Mimik) nicht oder ungenügend beachtet. Ohne ausreichende Theory of Mind ist das Verhalten anderer Menschen weder verständlich noch voraussehbar. Unterschiedliche Studien konnten den Mangel Theory of Mind bei Menschen mit ASS auf hirnphysiologischer Ebene nachweisen. Eine Übersicht über die Arbeiten findet sich bei Jenny et. al. (2012).
Im Alltag zeigt sich der Mangel an Theory of Mind oft darin, dass Menschen mit ASS Doppelbödigkeiten nicht verstehen, da sie sich auf den Inhalt von Aussagen fokussieren ohne die Prosodie und/oder die Mimik in die Interpretation mit einzubeziehen. Daher haben sie z.B. im Verstehen von Witzen und Ironie Schwierigkeiten. Wenn sie Freundschaften suchen, geraten sie oft in Situationen, in denen sie ausgenutzt werden. Sie verstehen ungenügend, dass eine Freundschaft auf Gegenseitigkeit beruht und auf Vertrauen und Loyalität beiderseits baut.
Zentrale Kohärenz
Die zentrale Kohärenz ist die Fähigkeit, übergreifende (soziale) Muster und den gesamten Kontext zu erfassen (Happé et al., 2006). Neurotypische Menschen setzen Reize (Menschen, Objekte, Situationen, Gefühle) immer in Bezug zum jeweiligen Kontext. Bei Menschen mit ASS ist die Fähigkeit zur zentralen Kohärenz beeinträchtigt. Dagegen ist die Tendenz, Reize isoliert und kontextfrei zu verarbeiten stark. Es wird oft von einer ausgeprägten Detailwahrnehmung bei Menschen mit ASS gesprochen. Studien konnten zeigen, dass Menschen mit eine leichten Form einer ASS dazu in der Lage sind, ganzheitlich wahrzunehmen, wenn sie explizit dazu aufgefordert werden. Ohne entsprechende Anleitung konzentrieren sie sich jedoch auf Details. Beide Wahrnehmungsstile haben in bestimmten Situationen ihre Vor- bzw. Nachteile. Um komplexe soziale Situationen zu verstehen, ist eine ganzheitliche Wahrnehmung (central coherence) unabdingbar. Im Analysieren von Fehlern ist eine detailorientierte Wahrnehmung (local coherence) jedoch hilfreicher.
Diese Besonderheit zeigt sich im Alltag immer wieder in der Fähigkeit von Menschen mit ASS, sich in ein Spezialgebiet zu vertiefen und sich in diesem Bereich erstaunliches Wissen und Fertigkeiten anzueignen. Spezialgebiete können mannigfach sein und reichen von technischen Bereichen über Logistik (z. B. Schienenbelegungspläne der SBB) bis hin zu botanischem bzw. zoologischem Wissen. Es zeigen sich bei den bzgl. Alltäglichem oft vergesslichen Menschen mit ASS eindrückliche Gedächtnisleistungen bezogen auf ihr Spezialgebiet.
Exekutive Funktionen
Bei den exekutiven Funktionen geht es um die Fähigkeit zu planen und zielgerichtet zu handeln. Bei Menschen mit ASS sind diese Funktion beeinträchtigt. Ebenso finden sich beeinträchtigte exekutive Funktionen bei ADHS, Tourette-Syndrom oder Störungen des Sozialverhaltens (Pennington et al. 1996). Diesen Störungen gemeinsam ist eine mangelnde Hemmung von Reaktionen, die einer zielgerichteten Handlung abträglich sind. Menschen mit einer ASS reagieren bei Wut beispielsweise oft in der Tendenz impulsiv und aggressiv. Sie scheinen nicht in der Lage zu sein, alternative Verhaltensweisen in Betracht zu ziehen. Veränderungsängste, Spezialinteressen und fehlendes vorausschauendes Denken finden ihren Ursprung in mangelnden exekutiven Funktionen (Freitag, 2009).
Im Alltag zeigt sich diese Problematik sehr deutlich darin, dass Abläufe oft sehr mühsam und am besten mit visueller Unterstützung gelernt werden. Damit sind Kompetenzen wie ein WC-Gang gemeint, aber auch Stundenpläne in der Schule. Unerwartete Veränderungen von Personen oder Abfolgen in der Schule führen bei Menschen mit ASS zu starker Verunsicherung und in der Folge nicht selten zu aggressivem Verhalten.
Literatur:
Colle, L., Baron-Cohen, S., Hill, J. (2006). Do children with autism habe a theory of mind? A non-verbal test of Autism vs. Specific language impairment. Journal of Autism and Developmental Disorders, 37, 716-723
Freitag, C. (2009). Neuropsychologische Diagnostik bei autistischen Störungen. Kindheit und Entwicklung, 18 (2), 73-82
Happé, F., Frith, U. (2006). The Weak Coherence Account: Detail-focused Cognitive Style in Autism Spectrum Disorders. Journal of Autism and Developmental Disorders, 36 (1), 5-25
Jenny, B., Goetschel, Ph., Isenschmid, M., Steinhausen, H.-Ch. (2012). Kompass-Zürcher Kompetenztraining für Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Stuttgart: Kohlhammer.
Pennington, P. F., Ozonoff, S. (1996). Executive Functions and Developmental Psychopathology. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 37 (1), 51-87
Remschmidt, H., Kamp-Becker, I. (2006). Asperger-Syndrom. Heidelberg: Springer.
Roeyers, H., Warreyn, P. (2010). Frühe soziale-kommunikative Beeinträchtigung bei Autismus-Spektrum-Störungen. In H.- Ch. Steinhausen, R. Gundelfinger (Hrsg.), Diagnose und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen. Grundlagen und Praxis (S. 44-80). Stuttgart: Kohlhammer.