Plötzlich ist das Asperger-Syndrom an allem schuld

  • Mir fällt je länger je mehr auf, dass man mich nicht mehr ernst nimmt. "Der hat doch das Asperger-Syndrom und versteht alles falsch. Weisst du, das ist eines der Probleme, die solche Leute haben" - so in etwa erlebe ich viele Begegnungen. Besonders fällt mir dies bei Leuten auf, die von meiner Andersartigkeit wissen. Hinter vorgehaltener Hand - dennoch:gut spürbar. Immer häufiger nimmt man mir das Heft aus der Hand und bevormundet mich. So in der Art von: Lass mich mal, ich mach das für dich. Hilfe ist ab und zu natürlich gut, doch wenn ich eine solche benötige, dann melde ich mich von mir aus. Ich habe ja seit der Diagnose das Sprechen nicht verlernt.


    Es ist erniedrigend, zu spüren, dass man mich als Dubbeli hinstellt und dementsprechend behandelt. Warum soll ich auf einmal "alles" falsch verstehen? Nur weil ich anders denke heisst das noch lange nicht, dass ich nicht mehr weiss, wo hinten und vorn ist. Bis zu meiner Diagnose AS habe ich mich in der Welt zurechtgefunden und jetzt, nur weil die Leute etwas "wissen", soll sich das geändert haben? Ich bin immer noch derselbe wie vorher, nur begreifen das die Leute nicht und das nervt gewaltig.


    Ich bin davon überzeugt, dass mich das Wissen um meine Andersartigkeit in Kombination mit meiner schon immer erlebten Hypersensibilität heute noch deutlicher Wahrheiten erkennen lässt hinter dem, was gesagt wird, aber nicht gemeint ist. Die Leute, denen ich die Manipulation, mit welcher sie mich in eine gewisse Richtung lenken wollen, regelrecht ins Gesicht geschrieben sehen kann, versuchen mich dann über die Schiene des Vorwurfs alles falsch zu verstehen, aus dem Konzept zu bringen.


    Ein Autist ist ein Autist, das wird man nicht einfach mit dem Erhalt einer Diagnose. Es ist unheimlich anstrengend, gegen diese sich hartnäckig am Leben haltende Einstellung anzugehen. Besonders schmerzhaft ist diese, wenn es sich bei denen, die eine solche einnehmen, um Familienangehörige handelt.


    So weit es geht, vermeide ich immer häufiger Zusammentreffen mit Leuten. Das bedeutet nicht, dass ich mich Zuhause verkrieche, ich suche ab und zu mal das "Bad" in der Menge, in dem ich in die Stadt fahre und die Leute um mich herum beobachte. Ich mag Menschen, würde gerne welche kennenlernen, die vielleicht ein Quäntchen tolerant und offen mir gegenüber wären. Auch als Autist weiss ich, was Toleranz bedeutet.


    Autisten sind anders aber nicht bekloppt. Autisten verstehen oft mehr von der Welt als die sogenannt Normalen. Autisten spüren Nuancen eher, sehen vieles aus einer anderen Perspektive, nehmen andere Standpunkte ein und sind oft ehrlicher als andere. Das sind durchaus positive Aspekte, die jedoch in der Welt da draussen nicht gerne zur Kenntnis genommen werden.


    Ich kämpfe darum, dass es irgendwann mal zu einer grösseren Akzeptanz von Andersdenkenden in unserer Gesellschaft kommen wird. Denn so, wie ich die Welt heute wahrnehme, ist es kein Schleck, sich dauernd behaupten zu müssen.


    Regenbogen

  • Ja, bei Missverständnissen oder Ungereimtheiten kann schnell der versteckte Vorwurf kommen, dass ich als Autistin grundsätzlich vieles falsch verstehe, weil dies ja so in den Diagnosekriterien steht. Mich verletzen solche Momente, denn um etwas misszuverstehen, braucht es mindestens zwei Beteiligte. Ganz aus dem Gleichgewicht können mich Situationen bringen, wo das Gegenüber nicht bereit ist, Verantwortung für ihr / sein Verhalten, ihre / seine Worte und deren Auswirkungen zu übernehmen. Und das hat nichts mit Autismus zu tun!

  • Das ist der Grund, warum manche autistischen Aktivisten davor warnen, Kindern frühe Diagnosen zu geben. Sie werden dann ein Leben lang so behandelt und können sich - anders als wir, die erst als Erwachsene diagnostiziert wurden - nie wirklich beweisen. Die Missverständnisse und Ungereimtheiten in der Kommunikation mit anderen gab es auch vor der Diagnose, nur werden sie jetzt halt dem Autismus zugeschrieben - vorher dachten die Leute einfach, ich sei schwierig oder stur. Besonders mühsam ist das, jetzt wie vorher, im Umgang mit Behördenvertretern usw., wenn ich als Autist mit sehr hohem IQ Gesetzestexte und Formulare besser verstehe als sie, aber sie sich auf den Standpunkt stellen, dass ihre falsche Auslegung oder Handhabung ja schon immer so praktiziert wurde. Mit meiner Familie habe ich schon seit 1998 nur noch (selten) brieflich Kontakt.

  • Als Mutter bin ich sehr froh um die Diagnose unseres Sohnes. Die Kommunikation mit ihm ist viel einfacher seit ich mir vorstellen kann, wie er die Welt wahrnimmt. Er ist wirklich sehr ehrlich, was ich schätze. Ich behandle ihn nicht als Autisten; er ist mein Sohn und ich liebe ihn bedingungslos. Sicher aber werden auch ihm Vorurteile zu schaffen machen, es sind nicht alle Menschen offen und neugierig.

  • Liebe Alle...irgendwie erschüttert mich das eben gelesene! Ich meine, schon klar dass eine diagnose immer auch ein stigma und demzufolge eine vereinfachung bedeutet...aber so wie ihr das beschreibt, das ist ja allerhand! Das heisst für mich, dass ich vielleicht doch wieder ein wenig vorsichtiger mit der diagnose unserer kinder "hausieren" gehen werde. Ich habe in der schule auch realisiert, dass es für einige eltern recht einfach ist zu behaupten, ihre kinder würden durch das ass verhalten unserer söhne negativ beeinflusst. Dass der umgang mit allen erdenklich verschieden wahrnehmenden menschen als bereicherung angesehen wird, daran werden wir alle noch viel und lange arbeiten werden müssen, los gehts:-)

  • Ich denke, hier handelt es sich um ein sozialpsychologisches Phänomen, das quasi gesetzmässig auftritt. Wir stellen unsere sozialen Identitäten sicher via Abgrenzung von andern, und das über eine Negation. Indem ich weiss, dass ich nicht so bin wie der andere, zB der Ausländer, der Flüchtling, der Behinderte, der Fremde, stärke ich meine eigene Identität, meine eigene Zugehörigkeit zu einer virtuellen Gruppe.


    Hierin besteht meiner Ansicht nach auch das Paradox, das du, Regenbogen, formulierst, und das ihr andern hier auch unterstützt, nämlich dass die Andersartigkeit doch bitte gesehen und akzeptiert werden soll. Indem wir Aspies als anders, als fremdartig akzeptiert werden sollen, wird doch genau auch die genannte unbewusst ablaufende Identitätsproblematik gestärkt.


    Ich möchte das an meiner Situation verdeutlichen. Ich werde von andern immer wieder als Professor wahrgenommen (das wird mir immer wieder gesagt); das heisst die andern nehmen mich als anders wahr, und grenzen sich selbst damit von mir ab bzw grenzen mich aus. Weil nun aber die Rolle des Professors nichts Ehrenrühriges hat, als sozial positiv gilt, werde ich in meiner Selbstwahrnehmung nicht verletzt.


    Würde ich mich aber als Aspie, oder sogar als Autist outen, würde das Vehältnis sofort kippen. Ich könnte mich zwar immer noch als Intellektuellen, als Akademiker mit Titel und so, legitimieren, aber in den Augen der andern wäre das Bild, das sie von mir haben, mit einem Makel behaftet, einem Makel, der für die andern das Sonderbare in meinem Wesen erklärt.


    Das ist deswegen so, weil Autismus sozial negativ bewertet wird. In den USA gilt die Aspie-Diagnose weithin als positiv, jedenfalls bis vor kurzem, da erst kürzlich die spezielle Diagnose ins allgemeine Autismus-Spektrum integriert wurde und in Zukunft nicht mehr als Asperger benannt werden soll. Aspies sind also in den USA noch diese ganz speziellen Menschen mit besonderen Begabungen, auf die man stolz sein kann.


    Im Übrigen stimme ich mit dem Beitrag von Aspendos oben völlig überein. Ich empfinde es als grosse Tragik, dass Kinder sozial stigmatisiert werden, wenn Eltern die Diagnose öffentlich kommunizieren. Bestimmten Personen gegenüber, wie einer Lehrperson, mag das auf vertraulicher Basis noch gerechtfertigt sein, aber andern Kindern gegenüber sollte dies nicht geschehen.


    Auch dem eigenen Kind gegenüber wäre es meiner Ansicht nach besser, behutsam vorzugehen und die entsprechenden Symptomatiken zu mildern bzw das Selbstbewusstsein des Kindes zu stärken, wo es sich in Frage gestellt fühlt, statt es früh mit der Diagnose zu belasten. Ich finde, es verhalte sich hier ähnlich wie mit der Adoptionsproblematik. (Wir sprechen hier natürlich von den milden Formen im Autismus-Spektrum . insbesondere von der Asperger Diagnose.)

  • Es mag sein, dass ich deine Ausführungen aus meiner Sicht anders als gedacht interpretiere, Cello. Was mich irritiert ist der Passus "dass die Andersartigkeit doch bitte gesehen und akzeptiert werden soll". Wie bitte schön soll ich denn das verstehen? Gehst du davon aus, dass ich und "ihr anderen" mit wehenden Fahnen daherkommen wollen und von der Welt verlangen, dass sie uns als Autisten willkommen heisst? Dass wir eine Kuschelgesellschaft erwarten, die uns wegen unserer "Andersartigkeit" in Watte packt und uns alle unsere "Fehler" verzeiht? Dazu kann ich dir nur antworten, dass ich es NIE gewollt, bzw. angestrebt habe, mich outen zu müssen.


    Ich vertrete den Standpunkt, dass jeder, egal welcher "Zugehörigkeit" er oder sie ist, leben soll und darf wie es ihm oder ihr zusagt, seinem oder Ihrem Naturell entspricht. Ich glaube nicht, dass es den meisten egal wovon Betroffenen Spass bereitet, sich freiwillig als Aussenseiter zu positionieren, in einer Welt, in der alles nicht normative zu tiefst verachtet wird. Mein Wunsch ist, heute ein Leben führen zu können wie vor der Diagnose. Man liest oft, dass die Diagnose eine Erleichterung darstelle. Das mag in bestimmten Bereichen zutreffen, zum Beispiel als Eigenerkenntnis, aber für das Leben in der normalen Welt bedeutet sie für mich den absoluten Albtraum. Es reicht schon einem möglichen Arbeitgeber die über ein Jahr gedauerte Krankschreibung in meiner Vita erklären zu müssen, bzw. wenn dieser sich Referenzen beim früheren Arbeitgeber einholt und schon stehe ich da und muss mich rechtfertigen. Wenn dann noch die Erwähnung des IV-Rentenbezügers dazu kommt, dann zählt der mögliche Arbeitgeber eins und eins zusammen und das ergibt dann in seiner Bilanz nicht zwei sondern null. :thumbdown:


    Wie du weiter schreibst, scheinst du dich in der glücklichen Lage zu befinden, dich nicht outen zu müssen - dazu kann ich dir nur gratulieren.
    Ich habe irgendwo mal gelesen, dass es nirgendwo mehr Autisten gäbe als an den Universitäten - will heissen Professoren :) :)


    Eine weiterer Punkt ist jener der Tragik der sozialen Stigmatisierung von Kindern. Wenn Eltern - ich bin selber Vater dreier Kinder, eines davon mit ASS - von der Schule wegen "Auffälligkeiten" ihres Sprösslings aufmerksam gemacht werden, dann müssen die Eltern zwangsläufig - ja wirklich zwangsläufig - die "Andersartigkeit" ihrer Kinder, worin die auch immer liegen mag, kommunizieren. Ich selber bin Linkshänder und habe in den ersten Jahren der Primarschule gestottert, was das Zeug hielt. Was meinst du, wie schnell ich - und damit auch meine Eltern - stigmatisiert wurden? Man fällt sofort auf wie ein schwarzes Schaf und wird zur Zielscheibe von Spott und Mobbing. Meine Eltern mussten sich Fragen gefallen lassen, die weit unter die Gürtellinie gingen und zur Folge hatten, dass ich "abgeklärt" werden musste. Die Folgen für mich waren Zwangsumerziehung zum Rechtshänder - was nicht geklappt hat, was wiederum mit einer geistigen Schwäche ( ich gehöre gemäss IQ-Tests zu den Höchstintelligenten ) begründet wurde, wegend es Stotterns gab es mehrere Jahre Spracherziehung. Dass das Stottern die Folge der Angst vor den Übergriffen der Mitschüler wegen meiner "Andersartigkeit" - Linkshänder allein hatte schon gereicht- gewesen war, hatte man damals nicht erkannt oder erkennen wollen. Was man damals in den frühen 70er Jahren unter Umerziehung verstand, will ich lieber nicht beschreiben. Es gibt viele meiner Generation, die dasselbe mitgemacht haben.


    Kinder spüren die "Andersartigkeit" eines Betroffenen sehr schnell von selber, dazu braucht es keine Kommunikation von seiten der Eltern. Die Folgen sind meistens Mobbing, nicht von allen, aber meist reicht ein Klassenkamerad eine Klassenkameradin aus um das betroffene Kind leiden zu lassen. Wenn die Lehrperson dann nicht entprechend reagieren kann - mitunter ein hoffnungsloses Unterfangen, je nach Schwierigkeitsgrad der Klasse - dann sind die Folgen katastrophal.


    Wir als Eltern unserer "andersartigen" Tochter hätten uns nichts sehnlicher gewünscht, als dass sie einfach in Ruhe gelassen wird, zumal sie keinerlei Mühe in den schulischen Leistungen hatte, nein, das Gegenteil war der Fall. Vertraulichkeit gibt es in diesem Zusammenhang nicht - so meine langjährige Erfahrung als Betroffener sowie als Vater eines betroffenen Kindes. Kinder können brutal sein, wenn es um die Bildung einer "Rangordnung" untereinander geht.

  • Wow. Das ist schon brutal....Ïch verneige mich vor deinem Schicksal, lieber Regenbogen. Alles Herumargumentieren geht an Schmerz und Leid vorbei, kann menschliche Tragik nie aufhellen. So müsste ich denn nun schweigen.


    Ich tu's nicht, um des Argumentes willen. Die Herde braucht den Aussenseiter, um sich ihres eigenen Gutseins, des eigenen Richtigseins zu versichern. Warum glaubst du sind Fernsehkrimis, wie "Tatort" und ähnliche Gräuelfilme so beliebt? Oder warum Boulevardzeitungen wie Blick oder Bild? Der 4-fach Mord in Rupperswil entsetzt die Bürger, die wöchentlichen Tatortgräuel unterhalten sie. Das Andersartige, im Krimi das Böse, Schlechte, Asoziale, oder die idealisierten Heldinnen der Regenbogenpresse auf der positiven Seite, auch sie hochstilisierte Aussenseiter, lassen das eigene Normalo-Leben mit seinen inhärenten Schwächen erträglicher erscheinen. "Wir sind gut, der ist schlecht", das stärkt das Selbstbewusstsein enorm.


    Das "schwarze Schaf" spielt also eine wichtige psycho-hygienische Rolle für die Herde. Du sagst es auch selbst treffsicher, wie Kinder das Anderssein von Kameraden instinktiv spüren. Aussenseiter gehören zur Herde, das liegt einfach an der Natur der Sache.


    Ich glaube, die Lösung, wenn es eine gibt, könnte heissen, nicht gegen die eigene Rolle anzukämpfen, sondern mit ihr, sie akzeptierend, ein gutes Leben zu leben, für sich, nicht gegen andere. In einer konkreten Situation wie deiner, mag das nicht so leicht sein. Und natürlich, ich habe gut reden, ich bin nicht in deiner Situation. Für mich bedeutet es, mich nicht aus von andern definierten Projektionen zu verstehen, sondern mich an meinen eigenen Massstäben zu messen. Ich weiss, dass das besonders schwierig ist beispielsweise im Stellen-Bewerbungsprozess, weil du dich da dauernd fremden Massstäben anzupassen versuchst, dauernd dich in mögliche Job-Situationen hineinprojezierst, aus denen dann doch nichts wird. Das ist hart.


    Ich sage dir ganz offen, was ich gemacht habe. ich habe zum vorneherein nur Berufs- oder sagen wir Tätigkeitsfelder für mich erschlossen, in denen der Unkonventionelle gefragt ist (oder mindestens war): das ist vor allem im sozialen Bereich weitgehend der Fall. Da ist es völlig normal, dass man nicht lange an der gleichen Stelle ist, dass man Ausszeiten braucht, dass man kein geradliniges Dossier vorzuweisen hat. Ein Problem besteht heute darin, dass bei den meisten Stellen ein Abschluss in Sozialpädagogik schon vorausgesetzt wird, und das hast du natürlich nicht. Aber dich halbwegs quaifizieren könntest du dich noch via einen Pflegeassistenz-Kurs vom Roten Kreuz. https://www.redcross.ch/de/srk…en-einstieg-in-die-pflege


    Ich hatte einige ältere Kollegen, die sich anhand eines solchen Kurses ein neues Tätigkeitsfeld erschliessen konnten, weil hier plötzlich menschliche Erfahrung gefragt ist, und das eigene Alter keine grosse Rolle spielt, sondern umgekehrt positiv gewertet wird.


    Die leidige Akademisierung der menschlich intensiven Tätigkeitsfelder schreitet unaufhaltsam voran. Aber irgendwo gibt es eine Nische für dich, wo genau dein Anforderungsprofil gefragt ist. Es sei denn, du steigst einfach total aus und wirst Taxifahrer; das war ich auch mal, und ich fühlte mich darin am wohlsten, weil unabhängig (fahrend) und doch eingebunden (in eine Zentrale und am Funk). Die vielen "Professor"-Zumutungen stammen übrigens unter anderem daher, von Kunden, die mit meiner Rolle als Taxifahrer nicht zurecht kamen. Aber es ging ja immer nur 5 Minuten, dann stiegen sie wieder aus. ;)

  • Lieber Cello, danke für deine eloquente Antwort. Aber verneigen? Wenn du das nicht zynisch gemeint hast, dann ist das nicht notwendig. Schweigen ebenso wenig, mich beeindruckt deine Argumentationsstärke! Danke.


    Ich stimme dir zu, wenn du schreibst, dass ich nicht gegen meine Rolle ankämpfen, sondern sie akzeptieren soll. Noch bin ich nicht so weit, zu neu ist das alles noch. Noch immer fühle ich mich in dem jahrzehntelang gepflegten Hamsterrad, da ist ein Aussteigen innerhalb kurzer Zeit schwer. Innehalten und Neuorientierung sind Schritte, die ich erst lernen muss.


    Aufgrund meiner Erfahrungen seit der ASS-Diagnose sehe ich nur einen Weg und der besteht darin, das zu tun, woran mir am meisten liegt, dessen Quelle sich in mir und nicht ausserhalb befindet, da ich mit Menschen allgemein nicht zugange komme. Ich steige also aus, aber nicht als Txifahrer, obwohl ich mich beim Fahren auch wohl fühle, doch eben, ohne menschliche Kontakte. Das Fahren hat mich immer faszininiert, ich wollte sogar mal den LKW-Führerschein machen, was aber an meiner schwachen Konstitution scheiterte. Ja, die Unabhängigkeit hat ihren Reiz.


    Nein, ich bin heute freier Schriftsteller und Maler, Dinge, die mir schon als Kind am nächsten waren. Frei deshalb, weil ich mich weder auf einen Verlag oder Galerie mehr einlassen werde. Auch hier gab es verschiedene schlechte Erfahrungen und deshalb die Entscheidung, sich nicht mehr zu binden. Schriftsteller und Maler? Für viele Mitmenschen haben diese Tätigkeiten einen schalen Beigeschmack - nicht für mich. Du schreibst von Nische: voilà, dies ist die meine. :)


    Im Mai diesen Jahres werde ich mein erstes selbstverlegtes Buch in den Händen halten. Ein erster Schritt, auf den ich mich sehr freue.

  • Lieber Regenbogen, danke für deine Antwort. Ich bedaure, bei meinem Verneigungssatz nicht meinem Impuls gefolgt zu sein, "Ich meine es ernst" hinzu zu fügen. Vielleicht hast du schon mal von Familienstellen, das der deutsche Ex-Jesuit und Psychotherapeut Bert Hellinger popularisierte, gehört. Beim Familienstellen gibt es dieses heilsame Ritual des sich Verneigens vor einem Schicksal eines andern, dort typischerweise natürlich vor einem Mitglied der eigenen Familie. Weil wir hier eine Art der Zugehörigkeit zu einer Familie im virtuellen Sinne besitzen, der Familie der ASS Diagnostizierten und ihrer Angehörigen, finde ich, passe diese Respekterweisung durchaus auch.


    Vielleicht warst du in deiner Jugend auch mal Ministrant?! Im Hochamt gibt es doch diese Form des leichten Verneigens mittels Senken des Kopfes... so etwas ähnliches stelle ich mir vor. So tun es auch die Thais bei einer ehrurchtsvollen Begrüssung, d.h die Verneigung kann durchaus auch Alltagscharakter haben, je nach kulturellem Kontext.


    Berufliche Selbständigkeit ist natürlich die beste aller Welten. Ich habe mich auch lange in jener Welt bewegt... bis es einfach nicht mehr anders ging, als mich nach andern Einkommensquellen umzuschauen. Ich finde, du schreibst auch sehr gut, und ich finde, lebensnaher, lebendiger, als es mir von der Hand geht. Dass dein Schreiben und Malen aus deiner inneren Quelle fliesst, ist natürlich besonders fruchtbar und vielverheissend.


    Was ich Schriftstellern, die im Selbstverlag publizieren, sehr ans Herz legen möchte, ist, mit einem Lektor zu arbeiten, weil jemand Fremdes, vom Fach, Schwächen in eigenen Texten erkennen und ausmerzen kann. Ich schreibe dies auch zuhanden anderer Schriftsteller, die sich in diesem Forum ein Sprachrohr suchen, die ich aber noch nicht direkt anzuschreiben wage, um ihnen nicht unnötig zu nahe zu treten.


    Ich vermute, dass dich ein Schritt besonders geschwächt hat, einmal abgesehen von deinem Coming-out am Arbeitsplatz: Der Gang ans Autismus-Kompetenzzentrum, wie du das nanntest. Ich vermute, dass du durch intensive Beschäftigung mit dem Thema die Diagnose stark verinnerlicht hast, und damit auch Aspekte, die dich schwächen, wie zB das Gefühl des Behindertseins. Ich frage mich, wie sehr du dich vor der Diagnose behindert fühltest bzw wie sehr du dich als Behinderter sahst (ich vermute, Letzteres überhaupt nicht, oder?)


    Ich sehe, was die Diagnose mit mir machte und noch macht, wenn ich mich voll auf sie einlasse bzw sie in meine Selbstwahrnehmung einfliessen lasse. Dieser Weg führt in die Depression (was ja zu deutsch Unterdrückung heisst), weil ich plötzlich Stärken an mir als Schwächen zu sehen beginne, noch dazu als soziale Schwächen, von andern verurteilt und geächtet.


    Beim Familienstellen bekommt man auf der Ebene des Mitfühlens Einsicht in das Schicksal anderer Menschen, und man sieht dabei, dass jeder Mensch ein Leid mit sich herum trägt - es ist nur vielen nicht so ganz bewusst. Das Besondere dort besteht aber darin, dass durch geeignete kleine Massnahmen, oft nur durch Umstellen der Stellverter, ein Heilungsprozess in Gang gesetzt werden kann, der auf lange Zeit hin wirkt. Der Katalysator ist die Integration, das Annehmen, das Klarsehen des Flusses der Liebe, wie er im System der eigenen Familie von allen Vorfahren her fliesst.


    Ein Satz ist mir als besonders wichtig in Erinnerung geblieben, der bei schweren Schicksalen so bedeutungsvoll wirkt: "Du hast es überlebt". ...

  • Lieber Cello, ich sende dir ein herzliches Dankeschön. Es berührt mich, dass du es mit dem Verneigen ernst gemeint hast. Eine schöne Geste!


    Nein, ich war nie Ministrant, mein Sohn hingegen schon und so habe ich dieses Ritual kennengelernt.


    Ja, von Hellinger habe ich schon gehört und auch schon mal einen Versuch unternommen, schwere Dissonanzen familiärer Natur zu entschärfen. Mir war jedoch nach der Sitzung nicht so ganz klar, auf welche Weise mir diese hätte weiterhelfen sollen. Ich habe diese Erfahrung in der Schublade " Diverses" meiner Denkkommode verstaut. In gewisser Weise sind wir wirklich eine Familie, wie du schreibst. Interessant diese These, so habe ich das Forum an sich noch gar nicht betrachtet.


    Bezüglich Lektorat stimme ich dir 100% zu, es gibt nichts schlimmeres als Texte voller Fehler, welcher Art auch immer. Bei meinem aktuellen Projekt - es handelt sich um eine Anthologie mit Kurzgeschichten sowie Gedichten ist eine gewisse "Freiheit" diesbezüglich - so finde ich - in erträglichem Ausmass erlaubt. Ein kleines Muster dieses Projektes habe ich kürzlich ins Forum gestellt.


    Für mein nächstes Projekt - ein Roman - hingegen werde ich mir jemanden suchen, der oder die das Lektorat übernehmen wird. Problempunkt hierbei sind leider die Kosten. Doch noch ist es nicht soweit. Wenn es soweit ist, werde ich mal sehen, wie ich das finanzielle zustande bringen werde. Es gibt immer einen Weg.


    Deine Vermutung ist richtig: der Lauf meiner Geschichte nach der Diagnose hat mich physisch und psychisch geschwächt. Was du betreffend der Folgen schreibst, kann ich nachvollziehen, VOR der Diagnose fühlte, bzw. sah ich mich nicht als Behinderter. Warum auch? Ich wusste, ich bin anders, aber behindert? Nein, auf gar keinen Fall! Das Loch, welches nach der Diagnose vor mir aufbrach, mein Ich-Verständnis total durcheinander brachte - letztendlich auch die Sicht in jenes war und ist immer noch sehr verschwommen und ja, auch bedrohlich. Die Selbstzweifel sind hart und auch zahlreich, zumal sie in den meisten Fällen unbegründet sind. Jeden Tag versuche ich mir selber zuzureden und mir klarzumachen, dass ich immer noch ich bin und kein anderer wegen der Diagnose geworden bin. Aber sag das mal einem, der mit der Abrisskugel - wie man sie zum Abreissen von Häusern braucht - Bekanntschaft geschlossen hat und noch immer nicht so ganz zu begreifen in der Lage ist, was denn überhaupt der Grund dafür war.


    Den Gang in dieses Kompetenzzentrum musste ich der IV wegen nehmen, von mir aus hätte ich diesen nie als Option in Betracht gezogen. Dort wurde mir erst so richtig bewusst gemacht, dass ich "behindert" sei. Weitere Kommentare dazu möchte ich mir zuliebe ersparen. Diese Erfahrung gehört in meiner Denkkommode in die Schublade "Als nie geschehen betrachten". Die Langzeitschäden, welche durch diese Phase entstanden sind, passen da leider - noch - nicht rein. :( Ich arbeite daran. Vielleicht muss ich eine grössere Schublade dafür ins Auge fassen.


    Trotz allem finde ich den Satz, der dir als besonder wichtig in Erinnerung geblieben ist, zutreffend: Ja, ich habe es überlebt und dafür bin ich dankbar. Die Geschichte hätte auch eine andere Richtung einschlagen können - hat sie aber nicht. :thumbsup:


    Danke dir für deine Beiträge :)