Muss man hier in der Schweiz wirklich mindestens wohlhabend sein, um seinem autistischen Kind wirksam helfen zu können ?

  • Es gibt unterdessen so einiges an Hilfs- und Lehrmittel spezifisch für autistische Menschen (Pictogenda, PECS, Toby, etc., etc. . . . ). Jährlich kommen unzählige neue, auch digital basierte hinzu. Was Unterstützungsbedarf für benachteiligte Kinder aber auch erwachsenen Menschen angeht floriert ein regelrechter Markt, was ja an und für sich sehr zu begrüssen ist.
    Was an dieser ganzen Sache aber stossend und ungerecht ist, ist dass all diese Produkte exorbitant teuer sind.
    Eine Arbeiterfamilie beispielsweise kann Derartiges schlicht und ergreifend nicht selber berappen !!!
    Weil aber für gewisse Behörden und Entscheidungsträger der Autismus immer noch unbekannt ist, obwohl die Prävalenz nachweislich bei 1:100 liegt, wird kaum etwas von den Kostenträger (Krankenkasse, IV) übernommenen.
    Meiner Meinung nach entwickelt sich in dieser Beziehung eine klassische Zweiklassengesellschft, ob bewusst oder auch unbewusst ist da unerheblich.
    Irgendwie wird da plötzlich vergessen, dass jeder Mensch hier zu Land ein Recht auf Bildung hat.
    Wenn es ums Zahlen geht, lancieren die Behörden ein regelrechtes Schwarzpeterspiel auf dem Buckel der Schwächsten.
    Wie seid Eure Erfahrungen diesbezüglich?
    Habt ihr auch ähnlich deprimierende
    Erfahrungen machen müssen?

  • Lieber Fritz


    Klar, es geht glaube ich allen Menschen, die nicht ins vorgesehene Schema X passen, ähnlich was das betrifft. Nicht nur Autisten!
    Wir sagen immer, unsere Kinder sind enorm teuer...von gluten- und caseinfreiem Essen bis Hilfsmitteln wie einer Druckweste, alles bezahlten wir selber...fast alles, ausser zum Glück den klassischen Psychotherapien oder Ergo usw.
    Ich denke, man müsste aber ev. öfters die behandelnden PsychiaterInnen anfragen, damit diese Anträge auf Kostengutsprachen an IV usw. verfassen. Aber klar, das ist im Grunde dann nur eine Verschiebung der Kosten sozusagen.
    Wenn eine Familie mit wenig finanziellen Mitteln sich helfen lässt, gibt es aber schon auch Möglichkeiten durch Stiftungen usw...wobei genau solche Familien oft nicht wissen, wie und an wen sie sich wenden sollten.
    Wir haben diese Erfahrung insbesondere betreffend Schule gemacht...die Kreisschulpflege hat unseren Sohn ausgeschlossen, wir Rekurs, das dauert...und am Schluss haben wir Privatkiga gefunden, war perfekt und gar nicht teuer usw...aber die Kosten, die mussten wir selber tragen, obwohl unser Sohn offenbar dazumal als nicht beschulbar abgestempelt wurde.
    Ob diese Fragen mit der Prävalenz usw. zu tun haben, ich weiss nicht...sollte doch keine Rolle spielen...auch wenn jemand ein, ich nenne es mal Gebrechen, hat und damit nur einer von einer Million ist...auch dieser Mensch sollte die Unterstützung erfahren, die er bräuchte, nicht??? Ich tue mich etwas schwer damit, dass sich die Autisten hier abheben, aber kann Dein Anliegen schon verstehen...

  • Habe bei Amatyra Sen, der 1998 den Nobelpreis für seine Arbeiten zur Wohlfahrtsökonomie gelesen:
    "Behinderte Menschen brauchen z. B. ein höheres Einkommen, um daraus dasselbe Ausmaß an Freiheit zu ziehen wie nichtbehinderte Menschen."
    Wenn man für seine Kinder mindestens gleich viel wie für nicht oder weniger behinderte Menschen erreichen möchte, also nicht nur die derzeit von staatlichen Behörden/ Institutionen angebotene Mindestsozialisation in separatistischen Einrichtungen ohne Anspruch auf Förderung zb. auch bei kognitivem Potential, der muss in Eigeninitiative seine eigenen Mittel einsetzen, um nicht nur eine ausreichende, sondern eine bestmögliche Beschulung/ Ausbildung zu finden und zu finanzieren, die optimalerweise, aber realistisch gesehen nicht zwingend zu einer Generierung dieses notwendigen Einkommens führt.
    Ich denke, es ist eher das Problem, dass wir alle der Illusion oder dem Ideal aufsitzen, dass in einem wohlhabenden Land doch für alle gesorgt sein sollte, vor allem, wenn es a) letztendlich gut investiertes Geld wäre, wenn das Ziel ein partizipierender Bürger, der sich selber versorgen kann, sein soll ( vielleicht ist das ja mein Denkfehler und es geht gar nicht um die Ermöglichung dieser Freiheit) und b) dies im Endeffekt die whs finanziell günstigere Variante fürs Allgemeinwesen wäre. Hier hat man leider noch nicht erkannt, welches Potenzial hier "vergeudet" wird, aber die ganze Welt geht ja nicht gut mit ihren Ressourcen um.
    Ich arbeite im Gesundheitssystem und es betrifft m.E. nicht nur die Menschen vom Spektrum bzw. ihre Familien, sondern alle, die nicht in die in-group passen.
    Ich hoffe, dass wir hier irgendwann auch den Anschluss an fortschrittlichere Strömungen finden, die es ja bereits gibt. Physisch gibt es sehr viel kostenlose Info und Materialien im WWW, aber ich habe selbst erfahren, dass das Zeit braucht und Zeit ist Geld. Ich denke, dass es aber vor allem einen Gesinnungswechsel braucht, nicht nur eine Materialschlacht. Wir sind alle emotional beteiligt, daher machen wir das mit Herzblut, kann man das von Lehrkräften, von Schulpsychologinnen, von Schulpflegemitgliedern erwarten? Wenn es geschieht, ist das ein Segen und Glücksfall, ist aber nicht vom System vorgesehen, da frag ich mich, wem die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel bzw. Empathie tatsächlich fehlt.

  • Hallo zusammen,
    Viel herzlichen Dank für Eure interessanten Antworten.


    Das Problem ist nicht nur die knappen finanziell Mitteln beispielsweise von Arbeiterfamilien, sondern auch die Unkenntnis wie man diese (extern) beschaffen könnte.
    Ein Beispiel: Nur wenige IV-Bezüger wissen, hier zu Lande, dass es eine Hilflosenentschädigung überhaupt gibt, die die behindertebedingen Mehrkosten abdecken sollten.
    Dieser Aspekt finde ich noch sehr wichtig in diesem Zusammenhang.


    Was das Geld anbelangt in unserem Lande, bin ich dezidiert der Ansicht, es hat ganz bestimmt genug Kapital da !!!
    Der Geldsegen fliesst ergiebig nur die Verteilung ist sehr ungerecht und absolut nicht ausgewogen. Beispielsweise öffnet sich die Lohnschere je länger je schneller.
    Eine sehr unbefriedigende Entwicklung der zunehmenden Entsolidarisierung eben.
    Man sollte mehr in die Schulung von Kindern mit Sonderbedarf, die aber möglichst in den Regelschulen inkludiert sind, investieren und nicht bloss immer in Wirtschaftgymnasien und/oder Eliteschulen bzw. Eliteuniversitäten.
    Die Marktwirtschaft muss sich selbst finanzieren, das entspricht auch ihrem eigenen Gredo, finde ich.
    Weiter glauben in der Schweiz zu viele Leute, das Lebensglück könnte man mit einer möglichst hohen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erkaufen - wenn all das so einfach wäre. . . .
    Die Statistiken der Psychiatrie sprechen da eine ganz andere Sprache, die Marktwirtschaft fordert nämlich ihre Opfer, siehe beispielsweise Burnout oder Alkoholmissbrauch.
    Ferner ist eine hohe wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit alles andere als sakrosankt, sie verschleisst beispielsweise weit überproportional unsere Umweltressourcen.
    Ein solidarisches Umdecken und weniger egoistischer Individualismus tun uns allen obendrein sogar unserer Umwelt gut.