Wie sind "geheilte" Autisten/Asperger?

  • Hallo zusammen :)


    Ich bin ein 19 Jahre alt und wurde schon mit 3 oder 4 Jahren mit dem Asperger-Syndrom diagnostiziert. Man hat dann gesagt, ich könnte später kein oder fast kein selbstständiges Leben führen, da der Asperger bei mir recht stark ausgeprägt war.
    Danach habe ich sofort eine Therapie angefangen, ich lernte Reflexe, die mir fehlten, wie man Blickkontakt aufbaut wenn man mit jemandem spricht, mich in andere Personen hineinzuversetzen usw. Der Erfolg war gross, als kleines Kind hatte ich noch das eine oder andere Problem, aber ich lernte auch nach der Therapie weiter den Umgang mit anderen Menschen und jetzt bin ich schon soweit, dass ich als Student in einer 6er WG lebe und nie Probleme mit meinen Mitbewohnern habe :)


    Jedoch merke ich immer noch, dass ich mich ziemlich von normalen Menschen unterscheide im Verhalten und in der Denkweise.
    Daher meine Frage: Gibt es Leute unter euch, die auch ihren Autismus/Asperger "geheilt" bekommen haben und falls ja, wie seid ihr? Ich frage, weil ich mehr über meine Identität wissen will. Bin ich so wie ich bin, weil das typisch für so ein "geheilter" Asperger ist, oder weil ich mich selber bin?


    Einige Infos zu mir:
    Ich bin ein sehr selbständiger eher Einzelgänger, der aber auch gerne mit anderen Menschen zusammen ist :). Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht sehr gesprächig bin. Ich bin auch ein recht langsamer Denker, ich glaube das liegt daran, dass ich ein schlechtes Arbeitsgedächtnis habe. Man kann aus meinen früheren IQ-Tests und post-therapeutischen IQ-Tests gut sehen, dass mein Arbeitsgedächtnis auf Kosten meiner Kommunikationsfähigkeiten stark abgenommen hat. Ich mag zwar doof wirken weil ich langsam denke, aber dafür freut es mich, dass ich mit anderen Menschen zusammen sein kann. ^^ Mir gefällt es so viel besser. (d.h. langsamer denken als nicht kommunizieren können finde ich besser). Ich konnte aber meine Begabung im logischen denken behalten.
    Ich habe extrem starke moralische Vorstellungen/Gerechtigkeitssinn, die aber trotzdem sehr flexibel sind. Damit meine ich folgendes: Ich würde nicht sagen, dass z.B. stehlen immer etwas böses ist und dass man es nie tun darf. Im Normalfall ist es etwas sehr Schlechtes, aber wenn die Umstände dazu aufrufen, (weil man z.B. einen krankes Kind hat und sich das nötige Medikament nicht leisten kann) dann kann ich auch mit Überzeugung sagen, dass es vielleicht. die einzig richtige Handlung ist.
    Ich bin auch jemand der immer zuerst an andere Leute denkt und dann an mich selber denkt. Ich helfe gerne anderen Leuten, und sehe immer das Gute an den anderen Menschen. Es wäre glaube ich nicht falsch wenn ich behaupten würde, dass ich zu naiv bin.
    In meiner Freizeit spiele ich gerne Schach seit ca. 12Jahren und habe auch mit Karate angefangen. Für das, dass ich so lange Schach spiele bin ich aber nicht besonders stark... Aber es macht trotzdem Spass :)
    Ich habe aber noch kleinere Mängel bei der Kommunikation: Ich kann überhaupt nicht Flirten... Obwohl ich irgendwann einmal eine Freundin/Partnerin haben will... Vielleicht muss ich einfach noch üben den Blickkontakt mit anderen Menschen länger aufrechtzuerhalten und mehr auf die anderen Leute bei Gesprächen einzugehen. Irgendwie geht es halbwegs gut und dann doch nicht und dann bin ich viel trauriger als auf diesem Emoji hier: :( . Es ist aber gut wahrscheinlich dass ich noch mehr Mängel habe, dessen ich mir aber nicht bewusst bin...


    Danke fürs Durchlesen, falls ihr auch Dank/wegen einer Therapie den Umgang mit anderen "normalen" Menschen gelernt habt, würde es mich freuen wenn ich euch beschreiben/Erfahrungen schildern könnt, damit ich weiss, dass es auch andere ähnliche Leute gibt und wie diese sind. :)


    Grüsse von Schachspieler

  • Hallo Schachspieler,
    Danke für deine Offenheit. Vieles von dem, was du beschreibst, kommt mir sehr bekannt vor. Ich selbst gehe davon aus, dass auch ich Autismus habe. Ich wurde als Kind vor ca.vierzig Jahren zwar "abgeklärt" habe aber nie eine klare Diagnose bekommen. Aber darum geht es hier nicht. Ehrlich gesagt habe ich mich bei deiner Beschreibung an dem Wort "Mängel" gestört. Denn sogenannte Mängel hat doch jeder, nicht nur Autisten. Deshalb möchte ich dir das sagen, was ich auch meinem zwanzig jährigen Sohn immer wieder sage. Er hat vor ein paar Wochen die Diagnose hochfunktionaler Autismus bekommen und ich finde, er darf auch ein bisschen stolz darauf sein darf, anders zu sein. Unbestreitbar ist jeder Autist auch etwas besonderes und hat neben all den "Mängeln" eben auch Stärken. Finde heraus, was deine Stärken sind und sei stolz darauf. Du hast z.B. logisches Denken erwähnt, oder eben, sich besser schriftlich auszudrücken, als mündlich. Das geht auch meinem Sohn so und es hat ihm auch geholfen, Freunde zu finden (über seinen Eisenbahn YouTube Kanal). Er hat sie erst nach längerem schriftlichem Kontakt persönlich getroffen. Das hilft, schon vorher voneinander einen Eindruck zu bekommen und heraus zu finden, wie der andere "tickt".
    Und was deinen Wunsch betrifft, irgendwann eine Freundin zu haben, bloss nicht aufgeben. Mein Sohn hat "die Richtige", die zu ihm passt und ihn genau so akteptiert und liebt wie er ist, auch erst vor ein paar Monaten gefunden.
    Grüsse, Mary

  • Hallo MaryM.


    Danke für die Antwort :) Ich bin auch einverstanden, dass man stolz auf seinen Stärken sein darf und sich auf diese konzentrieren kann, ich z.B. studiere auch etwas Naturwissenschaftliches, wo ich meine Fähigkeiten entfalten kann. Ich kann es gut und mache es auch gerne.
    Jedoch bin ich nicht damit einverstanden, dass man sich nicht auch auf die Mängel konzentrieren sollte. Es mag mühsam sein, aber ich bin der Meinung, dass man diese akzeptieren sollte statt zu verdrängen. Erst dann kann man sich verbessern und später ein glücklicheres Leben führen.
    Für mich ist die soziale Integration von Autisten ähnlich wie das von Ausländern: Wenn man sich Mühe gibt, gelingt es gut, wenn nicht isoliert man sich von der Gesellschaft. Es ist nicht einfach eine neue Sprache zu lernen, aber ich würde behaupten, dass sich der Aufwand lohnt.
    Ich hatte auch schon peinliche Momente weil ich auf meine Mängel konzentriert habe: z.B. wenn ich in einem Raum mit ca. 20 Personen hineinkomme und dann "Hoi zäme." sage und mir dann niemand antwortet... Aber diese Momente haben mich nicht gehindert weiter daran zu arbeiten und ich habe das Gefühl ich bin schon relativ weit gekommen.


    Grüsse Schachspieler

  • Lieber Schachspieler,


    das, was ich dir antworten möchte klingt brutal: Heilung in Sachen Autismus/ Asperger gibt es nicht. Damit wurdest du geboren und damit wirst du dein Leben verbringen. Im Laufe des Lebens lernst du mehr oder weniger - je nach "Schweregrad" - dich zurechtzufinden.


    Wenn du meine Erfahrung wissen willst, dann ist es die, dass du dich wegen deiner Andersartigkeit nicht hinterfragen solltest. Ich bin 54 Jahre alt und habe seit 2011 die Diagnose ASS. In dieser Zeit seit diesem Ereignis habe ich mich ununterbrochen damit beschäftigt, was denn nun an meinem Sein richtig oder falsch sein könnte. Vorher wusste ich zwar, dass ich anders bin, habe mich mehr oder weniger sagen wir mal durchs Leben geschlagen, wie es halt so ist, mit allen Höhen und Tiefen. Das erleben alle, auch die sogenannt Normalen. Seit der Diagnose habe ich begonnen an mir zu zweifeln, wurde ängstlich und manchmal geradezu starr vor lauter Aufpassen, ja nichts falsch zu machen. Was vor dem Wissen, dass ich Autist bin, irgendwie gelungen ist, gelingt mir heute nicht mehr, und das ist meiner Erkenntnis nach nur dem Umstand zu verdanken, dass ich mich heute auf alles mögliche in meinem Alltag achte und mich quasi dauernd im Alarmzustand befinde. Das ist kein angenehmer Zustand, bringt auch nichts, ausser noch weitere Einschränkungen, in meinem Fall physischer Natur.


    Langer Rede kurzer Sinn: es ist gut, wenn man sich im Klaren ist, dass man anders ist, aber der Fokus auf dieses Wissen sollte auf gar keinen Fall im Vordergrund stehen, sondern das Leben an sich. Lebe einfach drauflos, mit allen Fehlern und Fettnäpfchen, die dir dann und wann mal begegnen, ist doch völlig egal. Es gibt keine Menschen, die nie einen Fehler machen, auch sogenannt Heile nicht.


    Ein letzter Output vielleicht noch so als Nachgedanke: sei stolz darauf, anders zu sein und danke dem Leben, das dir geschenkt wurde. Ich wiederhole es noch einmal: Sei einfach du, mehr kannst du nicht tun und ist auch nicht notwendig. :)

  • Danke für die Antwort :)
    Danke für den Tipp, ich denke zwar nicht konstant daran, dass ich anders bin aber ich habe wirklich das Gefühl das es mir gut tut, weniger daran zu denken. Ich habe das mit dem dauerndem Alarmzustand zum Glück nicht. Während ich mit Menschen in Kontakt komme bin ich völlig frei von solchen Gedanken. Aber nachher beschäftige ich manchmal mit der Frage ob ich damals nicht unhöflich zu der Person war. Vor allem sind das bei mir Situationen, wo ich ein Gespräch plötzlich abbreche, weil ich etwas anders tun muss. Ich werde es auf jeden Fall mal versuchen.


    Eine Frage: Was hältst du von der Idee, dass man seine Mitmenschen über den ASS informiert? Ich habe das Gefühl, dass ich dann nachher weniger Sorgen machen machen muss, ob ich jemanden nicht verletzt habe. Denn die anderen wissen dann, dass ich es nicht absichtlich getan habe. Aber gleichzeitig mache ich mir auch Sorgen, weil das ASS mit vielen negativen Vorurteilen belastet ist. Ich kenne das recht gut, weil wir in der Schule ein Buch gelesen haben wo der Protagonist ein Aspie war. Und mir haben die Vorurteile meiner Klassenkameraden damals überhaupt nicht gefallen...


    Grüsse
    Schachspieler.

  • Lieber Schachspieler,


    deine Frage ist DIE Frage. Ja, wie verhalte ich mich denn? Es ist so, dass die Leute, mit denen ich in regelmässigem Kontakt stehe, "es" wissen. Bei anderen ist es leider vorgekommen, dass sich etliche von mir abwandten, den Kontakt abbrachen, aber das ist nicht mein Problem, sondern das der anderen. Im Klartext bedeutet das, dass sich mein Bekanntenkreis radikal verkleinert hat, womit ich in der ersten Zeit schon meine Probleme hatte. Ich habe mich ja wegen der Diagnose nicht verändert, ich bin immer noch derselbe wie vorher. Die negativen Reaktionen haben so wie ich das einschätze oft mit Ängsten vor dem Unbekannten zu tun, oder auch ganz einfach mit der Unlust, sich mit etwas zu beschäftigen, von dem man lieber nichts wissen will.


    Du hast schon Recht, das Thema Autismus ist mit negativen Vorurteilen belastet. Aufklärung ist auch nicht immer überall gern gesehen, leider muss ich sagen. Anfangs wollte ich etwas bewirken, indem ich auf die Leute zuging und ihnen von Autismus erzählte, vorallem aus meiner Sicht. Häufig kam es zu Reaktionen wie: oh das tut mir aber leid etc. Nicht wirklich hilfreich, finde ich.


    Was also tun? Ich spüre heute jeweils in mich hinein, ob ich einer Person davon berichten soll oder nicht, aber das ist sehr sujektiv und nicht immer liege ich da richtig mit meiner Einschätzung. Das ist leider eine Art Lotterie. Wenn du auf verständnisvolle Leute triffst, dann kann die Begegnung mit denen erfreulich sein, andererseits eben nicht. Wie schon erwähnt, es ist eine Lotterie. Generell würde ich allerdings nicht vom worst case ausgehen, das bringt nichts, sondern schadet nur. Du musst bedenken, dass dein Gegenüber auf das, was du denkst, reagiert. Das ist das Gesetz von Aktion erzeugt Reaktion.


    Ein weiteres Mal langer Rede kurzer Sinn: hör auf dein Gefühl. Mit der Zeit bekommst du den Dreh raus, glaub mir, ich habe die Erfahrung mittlerweile gemacht und darf dir sagen, es klappt schon sehr gut. In diesem Sinne: nur weiter so!

  • Danke für die Antwort :)
    Schade... Ich kann mir gut vorstellen, dass es schwer für dich gewesen ist... Meine Reaktion hier ist wahrscheinlich auch nicht besonders hilfreich, aber ich wünsche dir eine gute Zeit mit den Leuten in deinem Bekanntenkreis. Ich schätze es sehr, dass du mir von deinen Erfahrungen erzählst.
    Ich werde es höchstwahrscheinlich nicht tun, da ich nicht das Verhältnis zu meinen Mitmenschen riskieren will. Aber wenn ich jemanden wirklich vertrauen kann, dann vielleicht schon. Und im Zweifelsfalle eher nicht, da meiner Meinung nach der "Gewinn" nach so einem Geständnis relativ klein ist. Viel passiert ja nicht.
    Die Zusammenfassungen mit "lange Rede kurzer Sinn" finde ich übrigens recht hilfreich!


    Grüsse
    Schachspieler

  • Das ist eine interessante Frage – wer sind wir? Und nachdem ich mir jetzt einige Zeit Gedanken dazu gemacht habe, habe ich mich entschieden, darauf zu antworten.


    Ich bin 29 und lebe mit meinem Partner und unseren beiden Kindern zusammen. Zurzeit arbeite ich mit einem Pensum von 40% in einem Treuhandbüro. Letztes Jahr habe ich mein Betriebsökonomiestudium abgeschlossen. Eine offizielle Diagnose bezüglich Autismus habe ich leider nicht, dennoch bin ich mir ziemlich sicher, dass dies auf mich zutrifft. Nachdem ich jahrelang darüber nachgedacht habe, ob eine Diagnose sinnvoll wäre, hatte ich mich dann letztes Jahr endlich für eine Abklärung entschieden. Ein Arzt und ein Psychologe unterstützen mich dabei, da auch sie bei mir Asperger Autismus vermuteten. Die Abklärung in der Klinik bei der ‚Spezialistin‘ erwies sich dann aber leider als absoluten Reinfall. Die Frau war zwar sehr freundlich aber auch sehr unerfahren und inkompetent. Nach zwei relativ kurzen und oberflächlichen Gesprächen hat sie einen Bericht verfasst und das wars. In dem Bericht konnte sie den Verdacht nicht bestätigen. Da der Bericht aber so voller Fehler (also nicht gramatikalische Fehler, Tatsachen wurden falsch wiedergegeben) war und sie auch weiterreichende Abklärungen (die sie eigentlich machen wollte, wie sie mir zu Beginn der Gespräche gesagt hatte) einfach weggelassen hat, kann ich dies leider nicht ernst nehmen. Im Moment ist mir die Lust auf weitere Abklärungen vergangen. Vielleicht starte ich dann irgendwann nochmals einen Versuch.


    Nun zu der eigentlichen Frage wie ich bin: Als kleines Kind bin ich wohl nicht besonders aufgefallen. Ich war zwar stur, so wie meine Mutter erzählt, und eher schüchtern, aber ansonsten war da nichts Auffälliges. Dann kam ich in den Kindergarten. Damit war ich absolut überfordert. Zuerst einmal dauerte es sehr lange, bis ich ohne meine Mutter dableiben konnte. Meistens sass ich dann immer am gleichen Platz und habe gezeichnet. Die Spiele, die wir alle gemeinsam spielen mussten, verstand ich nicht. Irgendwie habe ich zwar mitgemacht, aber es war mehr Zufall, wenn ich das richtige machte. Auf die Idee auch einmal mit anderen Kindern zu spielen kam ich gar nicht. Bis dann die Lehrerin irgendwann sagte, ich müsse auch mit den anderen Kindern spielen und mich an einen Tisch mit zwei anderen Mädchen setzte, die auch zeichneten. Ich hatte dann das Gefühl etwas zu diesen Mädchen sagen zu müssen und weil mir nichts Besseres einfiel, nannte ich einfach alle Farben, die ich zum Malen benutzte. Das war wohl ziemlich komisch und da erstaunt es auch nicht, dass mich die beiden auslachten. Von da an hatte ich praktisch vor allen Menschen Angst vor allem vor Kinder. So war ich die ganze Schulzeit die Aussenseiterin. Ab und zu wurde ich ausgelacht und ansonsten einfach gemieden. Ich war die Letzte die in Sportmannschaften gewählt wurde, neben mir wollte eigentlich niemand sitzen und zu Geburtstagspartys wurde ich meist nicht eingeladen. Meistens gab es ein Mädchen, das sich mit mir abgab. Das war dann jeweils jemand, der auch nicht besonders beliebt war. Doch eine wirkliche Freundschaft konnte ich auch zu diesen Mädchen nicht aufbauen. Der Kontakt beschränkte sich auf die Schule und vielleicht noch den Nachhauseweg. Einige sehr wenige Male war ich dann auch einen Nachmittag bei diesen Mädchen zum Spielen.


    In der Schule fiel ich nicht besonders auf. Es fiel mir leicht zu lernen. Ausser im Sport, Handwerken und Musik (alles Fächer, die nicht zum Durchschnitt zählten) hatte ich sehr gute Noten, ohne viel dafür lernen zu müssen. Muster erkenne ich relativ schnell und da die Prüfungen immer nach ähnlichen Mustern abliefen, war es kein Problem für mich gute Noten zu schreiben, solange man nichts auswendig lernen musste. Das kann ich nämlich überhaupt nicht gut. Doch zum Glück kamen solche Prüfungen nur selten vor, also hatte ich gute Noten. Dass ich die Aussenseiterin war, fiel den Lehrern natürlich schon auf und es gab auch ein oder zwei Gespräche mit meiner Mutter darüber, aber da ich ja den Unterricht nicht störte und gute Noten hatte, störte es eigentlich niemanden wirklich und es wurde nichts unternommen. Ich selber litt sehr unter der Situation. Ich hätte sehr sehr gerne Freunde gehabt und wollte so gerne dazugehören. Wie das gehen sollte, wusste ich aber nicht. Ich kann mich noch an einen Tag in den Ferien erinnern. Wir fuhren immer nach Italien zu unseren Verwandten. Da mieteten wir jeweils alle zusammen eine Wohnung. Das war für mich die schönste Zeit im Jahr. Jedenfalls waren da auch meine Cousinen auch dabei. Und sie fanden jedes Jahr neue Freunde. Einfach so, in den Ferien. Kaum waren wir einige Tage dort, hatten sie schon neue Leute am Strand kennengelernt. Sie spielten mit denen Volleyball oder gingen spazieren und als wir älter wurden, gingen sie zusammen weg am Abend. Mir war das nicht ein einziges Mal passiert, dass ich jemanden kennengelernt hätte. Und weil ich das ändern wollte, habe ich meine Cousine gefragt, wie sie das mache. Sie konnte mir auch keine Antwort geben. Sie sagte nur, das passiere einfach so. Und wahrscheinlich ist das wirklich so, die meisten Menschen lernen sich einfach so kennen.


    Weil ich unter der Situation in der Schule litt, war ich zu Hause oft unausstehlich. Meinen Frust liess ich an meinen Eltern oder meiner Schwester aus. Am liebsten wollte ich nach der Schule nur noch alleine sein. So hatte ich auch nicht wirklich irgendwelche Hobbys. Zwar wusste ich, dass die meisten Kindern neben der Schule noch anderes machten, wie z.B. Musikinstrumente spielen, Sport, Singen, Pfadi usw. Und weil das ja offensichtlich normal ist, wollte ich das auch tun. Knapp ein Jahr habe ich Geige gespielt. Aber ich bin absolut unmusikalisch und so machte mir das auch überhaupt keinen Spass. Später bin ich dann reiten gegangen. Es war schön mit den Pferden zusammen zu sein, aber mir gefiel der Unterricht in der Gruppe nicht. Es waren immer andere Menschen da und da mich das Zusammensein mit den Schulkollegen schon so forderte, hatte ich dafür keine Energie mehr. So gab ich das dann auch relativ schnell wieder auf. Nach der Schule erledigte ich meine Hausaufgaben und danach las ich noch oder kochte mit meiner Mutter zusammen. Das lief immer gleich ab und man musste nicht viel dabei reden.


    Abends hatte ich in etwa seit dem Kindergarten Panikanfälle. Ich konnte sehr lange nicht alleine einschlafen. Als ich zu alt dafür wurde bei meiner Mutter zu schlafen, lag ich jeden Abend ganz still im Bett und hatte vor allem Angst. Ich hörte Geräusche oder sah Schatten, die mir Angst machten. Schon vor dem ins Bettgehen, fürchtete ich mich davor, durch die dunkle Wohnung zu gehen. Es kostete mich extrem viel Überwindung an offenen Zimmertüren vorbeizugehen, wenn es in den Zimmern dunkel war. Ständig hatte ich Angst, jemand wäre hinter mir und würde mich verfolgen.


    Der Wechsel von der Primar- in die Sekundarschule war für mich sehr schwer. Ich hatte mich jahrelang darauf gefreut. Es wären ja dann dort wieder neue Kinder und ich hatte mir fest vorgenommen, dass ich da nicht wieder die Aussenseiterin wäre. Hier wollte ich alles von Anfang an richtig machen und dazugehören. Ich überlegte mir, welchen Rucksack ich brauchen würde, um auch cool zu sein und mit wem ich mich am besten anfreunden sollte usw. Aber natürlich hat es nicht funktioniert. Nach wenigen Wochen war klar, dass ich immer noch die Aussenseiterin war und das auch bleiben würde. Das belastete mich sehr und ich zog mich noch mehr zurück. Ich sah alles nur noch schwarz und irgendwann war ich dann soweit, dass ich dachte, es wäre wohl das Beste, wenn ich nicht mehr weiterleben würde. Doch zum Glück dachte ich dann an meine Mutter und ich hätte ihr das nicht antun können. Und so entschied ich mich, mich zurück ins Leben zu kämpfen. Es dauerte lange und es war anstrengend jeden Tag gegen die dunklen Gedanken und die Angst anzukämpfen.

  • Dann kam der Wechsel von der Sekundarschule in die Diplommittelschule (heute Fachmittelschule). Inzwischen war es mir egal, ob ich dazugehörte oder nicht. Ich wollte einfach nur mich selbst sein und nicht mehr ständig Angst haben. So wurde ich von den neuen Schulkolleginnen gut aufgenommen. Zwar war ich immer noch die Aussenseiterin, aber es war mir egal. Und zum ersten Mal ging ich gerne in die Schule. Es war schön, die Mittagspause mit den andern zusammen zu verbringen. Auch wenn ich nie viel zu sagen hatte. Nach der Schule war ich immer noch meistens alleine, aber wenigsten etwas ausgeglichener. Was mich beschäftige, war die Frage, wie man einen Freund findet. Ich war ja inzwischen 16 und es gab schon einige Mädchen in der Klasse, die bereits einen Freund hatten. Die meisten schienen diesen im Ausgang gefunden zu haben. Doch zu Bars und Musiklokalen hatte ich keinen Zugang. Ich verstand nie, was es bringen sollte, in einem dunklen Raum bei zu lauter Musik zu sitzen. Tanzen konnte ich ja auch nicht und Alkohol mochte ich nie. Zudem hatte ich auch Angst abends weg zu gehen und mein Vater hätte es wohl kaum erlaubt. So war ich in der Diplommittelschule, die mit den guten Noten und die nicht mit in den Ausgang will. Aber das war ok. Ich konnte einigen Mädchen Nachhilfe geben und so etwas Geld verdienen.


    Nach der Diplommittelschule, wusste ich noch nicht, was ich genau machen wollte. Eigentlich hatte ich Krankenschwester oder Hebamme werden wollen, im letzten Moment habe ich mich aber dann zum Glück dagegen entschieden. Und so war ich 19 und ziemlich planlos. Da habe ich angefangen als Kindermädchen zu arbeiten. Ich liebte Babys schon immer und hatte auch schon auf die Kinder der Nachbarn aufgepasst oder in Lagern als Betreuerin gearbeitet und so fand ich eine Stelle in einer Familie mit drei Kindern. Lange Zeit gefiel mir die Arbeit sehr gut. Doch natürlich musste ich noch eine Ausbildung machen. Aber ich hatte keine Ahnung welche Ausbildung. So arbeitete ich einfach von morgens um acht bis abends um sechs oder teilweise auch länger und schob die Entscheidung zur Ausbildung immer etwas vor mir her.


    In dieser Zeit beschloss ich, dass ich in Zukunft mehr Kontakt zu Menschen haben möchte. Ich wollte lernen, richtig mit Menschen zu kommunizieren und vielleicht auch Freundschaften aufzubauen. Nicht nur oberflächliche Kontakte sondern richtige Freundschaften. Wenn das bedeuten würde, dass ich dann in der Ausbildung schlechtere Noten haben würde, wäre das für mich ok. Ich wollte lieber mit Menschen zusammen sein, als gute Noten haben. Da lernte ich dann auch einen Mann kennen, der in der Nähe von meiner Arbeitsstelle wohnte. Wir trafen uns einige Male und ich verliebte mich relativ schnell in ihn. Da er sich aber nicht in mich verliebte brach der Kontakt nach einigen Monaten wieder ab. (Inzwischen sind wir wieder befreundet). Mehr oder weniger gleichzeitig lernte ich im Internet meinen heutigen Partner kennen. Kurz darauf zogen wir zusammen und ich fing eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin an. Doch ich konnte mich nicht auf die Ausbildung konzentrieren, da ich bei meinem Freund alles richtig machen wollte. Ich wollte ihn auch keinen Fall verlieren. Das Zusammenleben mit ihm, war mir wichtiger als alles andere. So brach ich die Ausbildung nach wenigen Wochen ab. Ein halbes Jahr später, fing ich dann die Bürofachschule an und danach das Studium der Betriebsökonomie. Ich wechselte dann auch den Job und arbeitete in diversen Büros. Das sind Bereiche, die mir eindeutig besser liegen, als soziale Berufe wie Hebamme oder Sozialarbeiterin. Mit Fakten und Zahlen kann ich um einiges besser umgehen als mit Menschen. Daran hat sich nichts geändert. Ich bin gut darin, Steuererklärungen auszufüllen und Buchhaltungen zu führen. Solche Dinge muss man mir nicht oft erklären, bis ich sie verstehe. Aber eine Geburtstagsparty mit unbekannten Menschen, bedeutet für mich extremen Stress. Aktuell habe ich nicht sehr viele soziale Kontakte ausserhalb meiner Familie. Es gibt eben noch diesen einen Freund (oben erwähnt) und die Kollegen am Arbeitsplatz. Doch da beschränkt sich der Kontakt auch nur auf die Arbeit. Doch für mich ist es im Moment ok so. Mehr könnte ich auch gar nicht aushalten. Vor allem weil mir oberflächliche Kontakte nichts bedeuten. Wenn dann möchte ich richtig mit jemanden befreundet sein und mehr über ihn erfahren und Zeit mit ihm verbringen. Doch das kostet immer sehr viel Energie und die habe ich im Moment nicht. Momentan sind schon die Kontakte an der Arbeitsstelle an der oberen Grenze von dem was ich aushalten kann.


    Was mir aufgefallen ist, ist auch dass ich ein weniger gutes Gedächtnis habe, wenn ich jetzt mehr in Kontakt stehe mit Menschen als früher. Früher wusste ich immer zu 100% wem ich was wie erzählt hatte z.B. Ich wusste noch jedes einzelne Wort. Heute ist das nicht mehr so. Auch waren meine Leistungen im Studium deutlich unter den sonst für mich üblichen schulischen Leistungen. Hatte ich bis zur Diplommittelschule immer eine 5.5 im Durchschnitt, erreichte ich im Studium nur eine 4.8. Doch dafür lebe ich mit meinem Partner zusammen und das nun schon seit über acht Jahren. Und wir haben zwei wundervolle Kinder. Das ist es mir allemal wert.


    Wie gesagt meine Stärken, sind Zahlen, Fakten und Zusammenhänge. Ich erkenne Muster und kann sie schnell wiedergeben. Als wir letztes Jahr unser Haus umgebaut haben, habe ich alles alleine geplant. Das Budget und der Zeitplan wurden soweit eingehalten. Es hat alles funktioniert. Eine Ferienreise kann ich mühelos planen und organisieren. Oder auch wenn es darum geht ein Projekt zu planen, fällt mir das nicht schwer und es macht mir Spass. Usw.


    Meine Schwächen liegen aber eben im Zwischenmenschlichen: Ich kann meinem Chef nicht sagen, dass mir etwas nicht passt. Als es letztes Jahr bei der Arbeit so war, dass ich mich unfair behandelt fühlte, habe ich es nicht geschafft, etwas zu sagen. Stattdessen musste ich zwei Monate lang krankgeschrieben werden und ich musste die Stelle wechseln. Ich konnte meinem Partner erst nach dem wir schon jahrelang zusammen waren sagen, dass ich ihn liebe. Wenn meine Kinder krank sind, fällt es mir unheimlich schwer sie in den Arm zu nehmen. Einen Termin beim Zahnarzt oder auch nur beim Coiffeur muss mein Partner für mich vereinbaren. Wenn ich nicht weiss, wer anruft und was dieser besprechen müsste, nehme ich keinen Telefonanruf entgegen. Wenn mein bester Freund mir sagt, dass seine Tante gestorben ist, weiss ich nicht was ich tun soll und bin einfach sprachlos. Es fällt mir nicht ein, ihn in den Arm zu nehmen oder etwas Tröstendes zu sagen. Lange Zeit fiel es mir sehr schwer, körperliche Nähe zuzulassen. Mein Partner musste mir zuerst beibringen, wie das geht. Oft bin ich überängstlich. Überall sehe ich mögliche Gefahren. Usw.


    So ich hoffe, der Beitrag ist nicht zu lange und kann dir irgendwie helfen….Liebe Grüsse


    Ps. sorry musste den Beitrag aufteilen, da zu lange

  • Danke für die ausführliche Antwort :)
    Freut mich, dass du nach all den harten Jahren jetzt eine eigene Familie hast :) Würde ich auch später gerne haben...


    Mir ging es früher sehr ähnlich, in der Primarschule war ich ein Aussenseiter, und dazu noch ein Halb-Asiate, ein guter Grund für Primarschüler damals mich zu mobben. Ich ging überhaupt nicht gerne in die Schule und dann habe ich auch nach der Schule in der Einzeltherapie für Asperger mal geweint. Das waren nicht gerade meine schönsten Tage, aber wirklich depressiv war ich damals (noch) nicht.
    Im Gymnasium ging es mir dann viel besser, da waren die SchülerInnen viel netter und ich getraute mich zu öffnen, um so mehr mit anderen Leuten in Kontakt zu kommen. Es gab dann so einige Zwischenfälle, aber als ich das Maturazeugnis erhielt, war ich eine ganz andere Person als am ersten Schultag im Gymnasium. Viel offener, emotionaler nach aussen und ein bisschen gesprächiger. Ich hatte wahrscheinlich Glück, dass ich dort in einer Klasse mit netten SchülerInnen war.


    Ich finde es super, wenn auch andere Autisten mehr Kontakt zur Aussenwelt herstellen wollen :) deswegen beschreibe ich hier noch, wie ich es mache:
    - Ich achte jeweils nach (nicht während) eines Gespräches auf folgende 5 Aspekte: begrüssen, nachfragen, bedanken, entschuldigen, verabschieden. Wenn diese stimmen, dann kann bei einem Gespräch nicht mehr viel falsch laufen. Es klingt vielleicht doof, dass ich jetzt auf so einfache Aspekte aufpasse. Aber ich stellte immer wieder fest, dass diese bei mir nicht ganz stimmten. Es reicht glaube ich, wenn nach einem Gespräch auf diese Punkte achtet, beim nächsten mal macht man es automatisch besser.
    - Ich war auch noch nie im Ausgang, und gehe auch nicht an Studentenpartys. Ich will es auch nicht übertreiben und habe entsprechend auch nie vor, an diese zu gehen. Aber ich bin gerne im Schachverein, dort trifft man immer wieder dieselben Leuten und kann dann kleine Gespräche führen, wie z.B. “Wie läuft es im Studium?”. Bin der Meinung, dass man mit solchen Smalltalks in einer kleineren Gruppe (hier Verein) sich gut daran gewöhnen kann, mit anderen Leuten zu sprechen. Vielleicht hilft es dir, einem (kleineren) Verein oder Gruppe mal beizutreten?


    Schöne Grüsse
    Schachspieler