Leben hochfunktionale autistische Menschen vor allem im Über-Ich?

  • In der 'autismusgruppe winterthur' haben schon einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Vermutung geäussert, Autismus und insbesondere das Asperger-Syndrom definiere sich auch mit einer starken Ausprägung des Über-Ich.
    Das Über-Ich, dieser Begriff entstammt aus einem psychoanalytischen Modell des Wiener Psychologen Sigmund Freud. Leute die ihr Bewusstsein vor allem im Über-Ich
    sehen, sind sach- und verstandesbezogen, halten aber von Emotionen oder gar Libido wenig bis gar nichts, im Freud-Modell das 'Es'.
    Das kann auch ein Grund sein, weshalb so gut wie keine autistische Menschen sich wirklich für 'People', 'How is How' und Klatsch interessieren. Sie lesen deutlich häufiger Sachbücher als Romane usw.
    Mathematik, Physik ist ihnen beispielsweise viel beliebter und auch interessanter als ein dekadenter Promi-Quatsch oder 'Glanz und Gloria'.
    Kann das in einem Zusammenhang stehen, dass autistische Menschen oftmals sachbezogen sind und von einem emotionalen Brimborium sehr wenig halten?
    Die würde eigentlich wieder einem starken Über-Ich sprechen.
    Kann sein, dass dieses Freud-Modell als etwas veraltet gilt, aber eine gewisse Richtigkeit hat dieses auch heute noch, oder?

  • Ich finde, dass die Beschreibung genauso auch für NT's gilt. Warum sollen das nur Autisten so sehen? Ich zum Beispiel bin überhaupt nicht verstandesbezogen und lese sehr gerne und viel Romane und überhaupt keine Sachbücher, am ehesten noch Biografien. Was heisst "emotionaler Brimborium"? Ich bin ein sehr emotional ausgeprägter Autist, denke sogar oft, dass ich zu viel an Emotionen habe. Mathematik und Physik interessieren mich überhaupt nicht und haben es auch nie getan. Mich interessiert Kunst und Phantasie, welche beide sehr viel mit Emotionen zu haben und kann mit trockener Materie nichts anfangen. Ok, mit Promi-Quatsch kann ich auch nichts anfangen, aber das tun auch viele NT's nicht.


    Auf der anderen Seite kenne ich viele NT's, zu denen die Beschreibung passt und die sind nachweislich keine Autisten.


    Ich würde da keine Trennlinie zwischen AS und NT ziehen.

  • Ich denke, der von Fritz genannte Ansatz ist nicht völlig falsch, auch wenn er nicht derart verallgemeinert gilt. Meines Erachtens zeigt sich genau in diesen Foren hier, dass wir Aspies eher zu sachlich formulierten Stellungnahmen neigen bzw selbst dann, wenn wir Emotionales beschreiben, dies von einer objektiv-distanzierten Warte aus tun. Im Distanziert-Sachlichen als Kommunikationsperspektive erfahren wir mehr subjektive Sicherheit, so meine These. Dieses Sich-Positionieren als ausserhalb eines konkreten Erfahrungszusammenhanges stehend kann durchaus in der Freudschen Sprechweise von einem Über-Ich beschrieben werden.

  • Klar habe ich mich da pointiert geäussert.
    Mit dem 'Über-Ich' verstehe ich vor allem vernünftige Regeln befolgen und ein verstandesgemässes Handeln ohne wesentliche emotionale Einflüssen.
    Mir ist auch klar, dieses Modell von Sigmund Freud ist in vielen Belangen heute nicht mehr so zeitgemäss. Mehr als bloss ein Körnchen Wahrheit wird aber immer dahinter stecken.
    Eines ist aber klar, jeder Mensch hat ein 'Es',
    ein 'Ich' und ein Über-Ich'. Nur die Ausprägungen können sehr unterschiedlichesein. Da glaube ich schon, dass intelligente, hochfunktionale, autistische Menschen, im Gros, etwas mehr 'Über-Ich' haben als der Durchschnitt der Bevölkerung.

  • Ich kann das relativ gut nachvollziehen. Aufgrund der Bandbreite ist es natürlich richtig das es auch Autisten gibt die wenig mit Mathe und Physik anfangen können und lieber Romane lesen anstatt Sachbücher. Es gibt aber anscheinend sehr wohl eine statistisch signifikante Häufigkeit bei Autisten sich mit sachlichem Themen eher auseinanderzusetzen.


    Bei den Emotionen möchte ich auf ein häufiges Missverständnis hinweisen. Ich höre immer wieder das Autisten emotionslos seien. Das rührt warscheinlich daher das sie eher dazu neigen in Situationen in denen NTs emotional reagieren, sachlich zu bleiben. Daraus wird dann der (falsche) schluss gezogen Autisten sind emotionslos. Oft ist aber genau das Gegenteil der Fall. Autisten sind oft sehr emotional, nur reagieren sie nicht unbedingt so wie NTs das tun. Sie können z.B. "emotionslos" sagen "Ich bin traurig" während ein NT in ähnlicher Situation in Tränen ausbricht. Ausserdem sind Autisten oft nicht in der Lage die Emotionen anderer richtig zu deuten. Daraus wird dann der wieder der (falsche) Schluss gezogen sie seien Emotionslos, denn wenn jemand anfängt zu heulen emfinden NTs mit und äussern Ihr Bei oder Mitleid und heulen gegebenenfalls mit. Autisten tun das eher nicht und bleiben sachlich, denn sie sind ja nicht betroffen, was aber keineswegs bedeutet das eine eigene Emotion nicht vorhanden ist. Sie wird nur anders kommuniziert.