Liebe Melanie
Dein „Hilferuf“ hat mich sehr berührt. Kennst Du die Aussage The Terrible Twos? Trotzalter? Zweijähre sind im Begriff, sich als eigene Person mit eigenem Willen kennen zu lernen. Das ist auch für andere Zweijährige und ihre Eltern eine nervenaufreibende Zeit. Wahrscheinlich – das ist aber nur eine Vermutung – macht auch Deine Tochter diesen Entwicklungsschritt und ist überdies frustriert, dass sie sich nicht so mitteilen kann, wie sie gerne möchte. Und da sind vielleicht auch noch andere Probleme, Ängste, Unsicherheit was auch immer, und momentan kann Deine Tochter das nur übers Schreien mitteilen.
Wende Dich unbedingt an eine Beratungsstelle, die Dir auch einen geeigneten Kinderarzt nennen kann. Die Psychologin, die Du genannt hast, ist sicher ein guter erster Schritt in diese Richtung. Die Autismushilfe Ostschweiz ist eine gut Anlaufstelle. Über Autismus deutsche Schweiz bekommst Du ausserdem Angaben über Mitglieder, die sich bereit erklärt haben, Auskunft zu geben; ev. ist da jemand aus dem Kanton Schaffhausen dabei, der Dir einen guten Kinderarzt in Deiner Nähe empfehlen kann. Der KJPD Zürich ist diesbezüglich auch eine gute Auskunftsadresse.
Im Kanton Zürich gibt es einen Entlastungsdienst, der auch Leute hat, die sich mit dem autistischen Spektrum auskennen; vielleicht haben die eine Idee für eine Entlastung in Deinem Fall. Procap und Insieme sowie der Verein für Hirnverletzte Kinder (www.hiki.ch) können auch weiterhelfen. Das ist insofern nur schon entlastend, als dass Du realisierst, mit einem „solchen Problem“ nicht allein zu sein.
Du brauchst unbedingt Deine Insel, um zu regenerieren. Ohne Dich geht es nicht, aber mit Dir mit leeren Batterien eben auch nicht wirklich. Vielleicht gehst Du mal ein Wochenende und der Papa passt aufs Kind auf. Zeit für Dich und Dein Mann ist auch wichtig, vielleicht gibt’s ein Gotti oder ein Grosi, das zu Euch nach Hause kommt und aufpasst, auch nur mal für einen Abend. Das kannst Du langsam angehen, wenn z.B. das Gotti zuerst zwei-, dreimal kommt, wenn Du auch dabei bist und ihr zu Dritt was macht.
Und vielleicht das Wichtigste: versuche einen Weg zu finden, Dich und Deine Tochter zu beruhigen. Das ist ganz wichtig. Dein Kind mag vieles anders oder nicht genau wahrnehmen, für Deine Stimmungen hat es einen 6. Sinn. Jedes kleinste Gefühl Deinerseits von Unruhe, Angst, Sorge, Wut, Enttäuschung, Stress, Gereiztheit nimmt Dein Kind wahr. Sollte es schreien, weil es ein Problem hat, dann wird sein Problem durch ein solches Gefühl Deinerseits noch grösser. Ich weiss, es ist eine ungeheure Aufgabe, ruhig zu bleiben, wenn die Nerven blank liegen. Versuch‘ es vielleicht mit langsamen Atmen. Leg‘ Musik von Mozart auf, schau Dir Deine Tochter an und vertrau darauf, dass Ihr es schaffen werdet. Versuche zu meditieren und Dein Vertrauen an Deine Tochter weiterzugeben. Mach‘ das auch dann, wenn Deine Tochter nicht schreit. Beziehe sie mit ein. Versuche sie zu beruhigen, auch wenn sie nicht schreit. Vielleicht magst Du sie in ein Tragetuch einwickeln oder leise singen. Oder es gibt doch diesen Tummy Tub (das ist eine Babybadewanne, die ausschaut wie ein grosser Eimer), darin mag Deine Tochter vielleicht baden. Manchmal spüren sich die Kinder nicht mehr, werden unruhig und ängstlich und beruhigen sich in einem ruhigen Umfeld, das ihnen eine Begrenzung gibt, um sich wieder wahrzunehmen. Beziehe Deinen Mann mit ein, wenn es geht.
Über die IV hast Du Anspruch aufeine Ergotherapie, suche Dir unbedingt eine Ergotherapeutin, die sensorische Integration anbietet.
Vielleicht hast Du auch Lust ein „Erfolgsbuch“ anzulegen. Was ist alles positiv, wo und wann gibt es Fortschritte. Vielleicht hilft es Dir auch aufzuschreiben, wann Deine Tochter schreit; eventuell findest Du nach und nach sogar heraus, was der Grund dafür sein könnte? Nach dem Essen, am Abend, zur Schlafenszeit, wenn Dein Mann nach Hause kommt, wenn Du nervös bist oder lieber etwas anderes machen möchtest, wenn Deine Tochter den Raum wechselt oder unsicher wird?
Akzeptieren und Annehmen ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen gelingt. Eine zu den Umständen bejahende Einstellung hilft, es kann aber dauern, bis diese Einstellung kommt. Habe Geduld mit Dir. Wenn Du Geduld mit Dir hast, hast Du sie auch für den Rest Deiner Familie. Und so gerne
man wüsste, wie sich alles entwickelt, man kann es nicht wissen. Was man aber weiss ist, dass eine gute Einstellung hilft. Aus Erfahrung kann ich Dir sagen, dass die ersten paar Schritte, die passende Hilfe zu finden, für sich, die Familie und für das Kind, zu den schwiergeren Schritten gehören. Sie sind begleitet von Ungeduld und v.a.auch Zweifeln, ob das alles zu schaffen ist. Mit der Zeit wirst Du hineinwachsen, auch Dein Kind, und wie Du siehst, sind die allerersten Anfangsschritte bereits gemacht…
Ich wünsche Dir viel Kraft und Geduld und vor allen Dingen Gelassenheit, gerade auch in schwierigen Momenten.
Herzlich, Lynn