Unsere zwei Knaben mit hochfunktionalem Autismus hatten eine Schwester. Unser Mädchen war die Zweitgeborene. Glücklich und unbelastet genossen wir unsere zwei Erstgeborenen, wir genossen unsere junge Familie, bis unser Mädchen knapp 2 Monate alt war. Dass sich unser Leben mit der Geburt unserer Tochter einschneidend ändern würde, ahnten wir zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. Im jungen Alter von knapp zwei Monaten erlebte ich bei unserer Tochter den ersten Epi-Anfall, ich war geschockt und hatte nicht die geringste Ahnung, was mit unserer Tochter da geschehen ist. Zum ersten Mal, erlebte ich die Angst, dass unsere Tochter stirbt. Am Abend erlebten wir den 2. Epi-Anfall. Danach folgten Spitaleinweisung und viele Abklärungen und Untersuchungen. Uns dämmerte langsam, dass unser bis dahin gesundes Kind eventuell von einer Behinderung oder Krankheit bedroht sein könnte. Während Monaten kämpften wir um eine Erklärung, was mit unserer Tochter los sei. Die Ärzte rückten mit ihrem Wissen nicht hinaus, bis ich die Verfügung der IV in den Händen hielt. Danach konnte mir die IV-Stelle anhand der Geburtsgebrechen-Nummern sagen, für welche Behinderungen und Krankheiten unsere Tochter durch die Ärzte angemeldet worden ist.
Die Zeit vom 1. Epi-Anfall bis zur Auskunft der IV-Stelle erlebten wir wie in einem Nebel. Wir fühlten eine ungeheure Angst vor der Zukunft, wie sich unsere Tochter entwickeln würde, konnte uns niemand sagen. Wir schafften es, nach einiger Zeit zu sagen: wir lieben unsere Tochter sehr und wir wollen es nicht dazu kommen lassen, dass wir es verpassen, aus lauter Angst, das Leben mit unserer Tochter zu geniessen. Unsere Tochter wurde viereinhalb Jahre alt, dann verloren wir sie an den Tod. Die Epi, an der sie litt, hat ihr Stammhirn zerstört.
Unserer Tochter haben wir sehr viel zu verdanken, sie hat unser Leben sehr geprägt. Sie lernte uns, unser und ihr Schicksal anzunehmen. Sie lernte uns jeden Tag an dem es ihr gut ging zu geniessen, und nicht mit Angst an "das Morgen" zu denken.
Natürlich stellten wir fest, dass die Entwicklung unserer Knaben nicht normal verlief, zum Teil erklärten wir uns dies mit ihrer Trauerbewältigung an die verstorbene Schwester, andererseits beruhigten wir uns damit, dass es unmöglich sein kann, noch ein zweites und drittes behindertes Kind in der Familie zu haben. Wir sahen, dass die Knaben ihre Fortschritte machten, sie lernten laufen, spielen, alles Dinge, die unser Mädchen vielleicht nie hätte lernen können.
So vergingen die Jahre, als die Knaben älter wurden, sahen wir uns mit der Tatsache konfrontiert, dass ihre spezielle Art zu sein, doch sehr stark von der Norm abweicht, dass es durch die Erklärung, dass viele Familienmitglieder sind wie sie, diese Wesensart nicht mehr befriedigend und ausreichend erklärt. Die Sprachbehinderung war bei ihnen sehr viel stärker ausgeprägt, andere Familienmitglieder hatten zwar eine leicht verspätete, aber danach normale Sprachentwicklung. Gefasst und zugleich auch erleichtert nahmen wir die Diagnose Autismus entgegen. Zum ersten Mal passte alles zusammen. Unseren Knaben ging es mit der Diagnose gut, sie bekamen zum ersten Mal Hilfe, die auf sie zugeschnitten ist.
Die Verarbeitung dieser Diagnose erlebten wir ganz anders als bei unserer Tochter. Bei der Tochter erlebten wir die Phasen der Trauer, der Hilflosigkeit, wir fühlten uns wie gelähmt. Aus diesem Zustand mussten wir uns raschmöglichst wieder befreien, damit wir für unsere Tochter wieder dasein und für ihr Leben kämpfen konnten. Damit wir wieder mit ihr lachen und spielen konnten. Die Diagnose Autismus war für uns leichter zu akzeptieren, weil wir unsere gesunden Knaben, vor uns sehen konnten. Sie waren und sind voller Leben, voller Pläne für ihr junges Leben. Sie haben zum Glück in der Zwischenzeit beide die Sprache entdecken können, so war für uns eine Kommunikation mit ihnen möglich. Wahrscheinlich hätte uns die Diagnose Autismus, wenn diese bei ihnen mit drei bis fünf Jahren gestellt worden wäre, viel mehr zu schaffen gemacht. Wir hätten mehr Angst vor der Zukunft gehabt, zum damaligen Zeitpunkt hätte bei beiden Knaben wahrscheinlich die Diagnose frühkindlicher Autismus gelautet. Im Freundschaftskreis kannten wir zwei Familien mit Kanner Autisten, aus diesem Grund war uns das Erscheinungsbild von Autismus etwas bekannt.
Je mehr wir uns in die Fachbücher über Autismus und Asperger-Syndrom einlasen, erschraken wir dann doch, als wir uns und viele nahen Familienmitglieder in den Beschreibungen wiederentdeckt haben. Die Familie lehnt es ab, auch nur darüber nachzudenken, dass auch andere Familienmitglieder vom Asperger-Syndrom betroffen sein könnten. Plötzlich zu erkennen, dass der eigene Partner oder die eigenen Kinder von diesem Syndrom betroffen sein könnte, wird konsequent abgelehnt, schliesslich konnten alle normal sprechen und einen Beruf erlernen. Viele waren und sind sogar aussergewöhnlich erfolgreich in ihrem Beruf. Die Verarbeitung dieser Diagnose in der Familie wird nach wie vor abgelehnt, es wird sehr ungerne darüber gesprochen. Wir akzeptieren dies in der Zwischenzeit.
Der Ältere hat seine Diagnose sehr schnell und gut für sich verarbeitet. Er hat viele Bücher über Autismus und Asperger gelesen. Manchmal merke ich aber, dass ihn seine Beeinträchigung auch wieder einholt. In der Berufsschule ist alles neu, noch hat er Mühe sich zu melden, auch wenn er die Antwort weiss. Dann ärgert er sich über seinen Autismus, der ihm im Weg steht. Der Jüngere hat viele Fragen, er vergleicht sich viel mit den anderen und will wissen, warum sich neurotypische Kinder anders verhalten als er. Er will wissen, ob und wie autistische und normale Gehirne funktionieren, was anders ist. Ich habe den Eindruck, dass der Jüngere momentan seine Diagnose "anders zu sein" sehr gut verarbeitet.
Die Pubertät erlebe ich bei meinen Knaben sehr ausgeglichen. Grosse Stimmungsschwankungen kann ich nicht feststellen. Voller Vertrauen begegnen sie uns zu Hause. Wahrscheinlich wird es für sie eine Zeit geben, die schwieriger für sie werden wird. Damit meine ich die Partnersuche. Dies wird wahrscheinlich wieder eine Phase sein, da ihnen der Autismus mehr zu schaffen machen wird und sie vielleicht auch ein wenig mit der Diagnose hadern werden.
Bei uns Eltern hat die Diagnose zugleich auch unseren Kampfgeist weiter geweckt. Vorher kämpften wir auch, für den Jüngeren kämpften wir für eine normale Schulbildung. Wir kämpften gegen Vorurteile, wie ein Kind, das nicht spricht, muss geistig behindert sein, etc. Aber wir kämpften ziemlich auf verlorenem Posten, gegen die vielen Fachleute, Heilpädagogen und Ärzte kamen wir kaum an. Am Schluss haben wir es übernommen, dem Jüngeren die Schulbildung auf die er ein Anrecht hat zu vermitteln. Dafür wendeten wir Wochenende um Wochenende auf. Seit der Diagnose sind wir plötzlich in einem Team. Wir bekamen Hilfe, unser Kind bekommt heute die Schulbildung, auf die er ein Recht hat!
Jedoch, liebe andere Eltern, wir müssen weiterkämpfen und dazu lade ich euch alle ein. Unsere Kinder werden erwachsen. Es müssen für sie Ausbildungsplätze beschafft werden, sie müssen die Möglichkeit haben selbständig zu leben, etc... Die Anregung von Geisslein, bei Schwierigkeiten und Besonderheiten unserer Kinder nicht nur Eltern sondern auch Selbstbetroffene zu fragen, finde ich eine ausgezeichnete Idee. Ich habe diese Möglichkeit, ich kann an meine eigene Kindheit zurückdenken ich kann mit meinem älteren Sohn und mit meinem Mann über Auffälligkeiten des Jüngeren sprechen. Auch hier im Forum oder im Aspergerforum können uns Selbstbetroffene mit Tips und Anregungen weiterhelfen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass jeder von Autismus betroffene Mensch so individuel unterschiedlich ist, wie jeder neurotypischer Mensch auch.
Liebe Grüsse, Monica