Guten Tag Herr Glüer
Zu Ihrem Thema ist mir einiges durch den Kopf gegangen. Sie scheinen das Verhalten, was Sie als "Wut" bezeichnen, für ein bewusstes Fehlverhalten des Jungen zu halten. Zwischen einem unkontrollierbaren Meltdown und bewusstem Fehlverhalten gibt es jedoch noch eine ganze Menge Zwischentöne. Es ist durchaus möglich, dass die "Wut", wie Sie sie beschreiben, aus einer Reizüberflutung oder einer Überforderung resultiert und eben nicht kontrollierbar ist. Natürlich ist Schlagen kein gutes Verhalten und muss in andere Bahnen gelenkt werden, das nur zur Klarstellung. Die Frage ist für mich aber nicht, wie Sie das Verhalten am besten sanktionieren können, sondern warum der Junge zuschlägt. Er braucht bessere Bewältigungsstrategien für seinen Frust, die bekommt er aber nicht, indem er bestraft wird.
Die erste Frage ist: Warum entsteht dieser Frust / diese Wut? Das ist nicht einfach Böswilligkeit oder ungezogenes Verhalten. Es hat immer einen Grund. Es kann auch sein, dass Sie selbst die Ursache setzen oder dazu beitragen, z.B. indem Sie seine körperliche Wohlfühldistanz unterschreiten (die grösser sein kann als bei neurotypischen Menschen), oder dass Sie zu viel mit ihm sprechen und er dadurch eine Reizüberflutung bekommt.
Es ist durchaus möglich, dass der Junge in Ihren Übungsstunden so hart daran arbeitet, Ihre Erwartungen an ihn zu erfüllen, dass er am Ende so erschöpft ist, dass er sich nicht mehr kontrollieren kann. Wenn Sie ihn dann bestrafen und die Belohnung wegnehmen, bestrafen Sie ihn dafür, dass er so gut mitgearbeitet hat.
Also als erstes die Frage, warum sich dieser Frust aufbaut. Vielleicht gibt es Dinge, die man verändern kann. Wenn Sie etwas von ihm verlangen, kann es sein, dass er zu wenig Zeit bekommt, um sich auf die Anforderungen einzustellen. Übergänge sind für Autisten schwierig. Gibt es etwas, das ihm den Übergang erleichtern könnte?
Die zweite Frage ist: Kann man dem Jungen beibringen, seinen Frust anders abzureagieren, als Sie zu schlagen? Kann er z.B. lernen, als ersten Schritt stattdessen in ein Kissen zu schlagen?
Und vergessen Sie bitte nicht, dass Autismus eine Entwicklungsverzögerung ist. Dass der Junge 9 Jahre alt ist, verbal ist und eine durchschnittliche Intelligenz hat, bedeutet nicht, dass er emotional ebenfalls 9 Jahre alt ist. Wenn er emotional noch wie ein Zweijähriger reagiert, dann würde das sein Schlagen erklären, er wäre aber kaum in der Lage, sein Verhalten zu reflektieren und anders zu handeln. Da würde eine Bestrafung nichts erreichen, ausser noch mehr Frust und Verzweiflung bei dem Kind auszulösen.
Die Fähigkeit, Frust auszuhalten und sich besonnen zu verhalten, ist auch immer von der Tagesform abhängig und davon, was an dem Tag vorher schon alles passiert ist. Dass der Junge sein Verhalten manchmal kontrollieren kann, bedeutet nicht, dass er immer und in jeder Situation dazu in der Lage ist.