Beiträge von Dr.med. Thomas Girsberger

    Da die Diskussion ja schon fast abgeschlossen ist und ich erst mit Verspätung darauf aufmerksam wurde, möchte ich mich kurz fassen: Es gibt für Autismus-Spektrum-Diagnosen KEINE Ausschlusskriterien. Und: im neuen Diagnose-Manual DSM-5 wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung soziale Verhaltensweisen durch Übung lernen können und dass man für die Diagnose-Stellung immer auch Rückschau halten sollte zu einer Zeit, wo dieses Verhalten noch nicht angelernt war (wohingegen neurotypische Kinder dieses Verhalten spontan entwickeln).

    Mein dritter Beitrag zum Autismus-Kongress 2013 in Budapest fasst eine Studie zusammen, welche von Dr. David Preece (Universität von Northampton) in England durchgeführt wurde.


    In dieser Studie wurden die verschiedenen Ansichten und Erfahrungen untersucht, welche in 14 Familien mit einem Kind mit Autismus (mit hohem Unterstützungsbedarf) vorkamen. Es wird betont, dass die meisten bisherigen Erkenntnisse über Familien durch die Befragung von Müttern gesammelt wurden und die Ansichten von Vätern und Geschwistern weit weniger bekannt sind. In dieser Studie wurde klar, dass die Einstellungen von Vätern von denen der Mütter ganz erheblich abweichen. Als Schlussfolgerung wird festgehalten, dass Beratungsstellen unbedingt auch die Väter und Geschwister mit einbeziehen sollten. Daraus ergibt sich erst ein vollständiges Bild der Bedürfnisse des Kindes mit Autismus und der Familie als Ganzes.


    Die Sicht der Mütter


    Grundsätzlich akzeptierten alle Mütter die Folgen für die Familie, die ein Kind mit Autismus mit sich bringt. Damit einher ging oft auch eine gewisse Resignation, angesichts der Tatsache, dass eigene Karriere- und Zukunftspläne eingeschränkt werden mussten.
    Wichtige Themen bei vielen Müttern sind auch Isolation und Stigmatisierung. Die Isolation begann oft schon innerhalb der Ehe, waren doch die Hälfte der befragten Mütter alleinerziehend ohne jegliche Unterstützung durch den Kindsvater. Wenn der Vater oder ein Partner anwesend waren, so beteiligten sie sich kaum an der täglichen Betreuung. Viele Mütter berichteten auch, dass sie sich von der erweiterten Familie isoliert fühlten und dass Freundschaften und Beziehungen, die vor der Geburt des Kindes bestanden, verloren gingen. Auf der anderen Seite ergaben sich neue Freundschaften mit Eltern von autistischen Kindern, die sie via Schule oder Selbsthilfegruppe kennenlernten.
    Stigmatisierung wurde oft erlebt: durch verletzende und kritische Kommentare von völlig fremden Personen, die sich über das Verhalten des Kindes oder den vermeintlich schlechten Erziehungsstil der Mutter beklagten. Als noch schlimmer wurden Reaktionen von Nachbarn erlebt, welche ihre eigenen Kinder vom Kind mit Autismus fernhielten oder sich darüber beklagten, dass da regelmässig ein Schulbus vorfährt.


    Die Sicht der Väter


    Typische Themen in den Interviews mit Vätern waren: Rückzug, Herunterspielen der Schwierigkeiten und Sorgen in Bezug auf die Zukunft. Wie bereits erwähnt waren in der Mehrzahl der interviewten Familien die Väter nicht mehr präsent oder beteiligten sich nur am Rande an der täglichen Erziehung. Auch hatten die anwesenden Väter kaum Kontakt mit jenen Helfern, die von Berufs wegen sich um das Kind mit Autismus kümmerten. Niemand von den Vätern beteiligte sich an einer Selbsthilfegruppe oder suchte Kontakt zu anderen Familien in ähnlichen Situationen. Am ehesten noch suchten sie Informationen über ihr Kind im Internet.
    Im Gegensatz zu den Müttern, welche betonten, wie sehr sich Autismus negativ auf das Familienleben auswirkte, tendierten Väter dazu, die Folgen für die Familie eher zu bagatellisieren.


    Die Geschwister


    Es wurden insgesamt 10 Geschwister interviewt. Es tauchten fünf typische Themen auf: 1) Sie empfanden das Leben mit einem autistischen Bruder (oder Schwester) als ziemlich normal, 2) sie betonten die starke Bindung, 3) sie selber mussten sich mehr einschränken als andere, 4) sie erlebten peinliche Situationen und 5) immer wieder auch Stress.
    Die Geschwister übernahmen oft viel Verantwortung durch direkte Betreuung, Mahlzeiten vorbereiten, Begleitung unterwegs, usw. Sie wussten auch alle über Eigenschaften ihres autistischen Geschwisters zu berichten, die ihnen gefielen und es wurde klar, dass sie eine starke Bindung empfinden. Einige waren auch der Meinung, das Zusammenleben mit einem autistischen Geschwister habe auf sie einen positiven Einfluss gehabt.
    Auf der anderen Seite wurde natürlich auch erwähnt, dass unter dem Einfluss des Autismus Einschränkungen in Kauf genommen werden mussten, sozial und in der Familie. Oft konnten Geschwister nicht in dem Masse mit anderen abmachen oder Kollegen zu sich nach Hause nehmen, wie sie das gerne getan hätten. Was immer wieder erheblichen Stress mit sich brachte war das aggressive Verhalten des Kindes mit Autismus, sowohl gegen die Geschwister selbst wie auch gegen deren Eigentum.


    Fazit


    Es ist sowohl für Forscher wie für helfende Berufe wichtig zu wissen, dass innerhalb einer Familie mit Autismus sehr unterschiedliche Perspektiven vorkommen und dass alle gebührend berücksichtigt werden sollten.


    Kommentar


    Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass ich insbesondere die Kommentare zu den Vätern in dieser Studie aus der eigenen Praxis bestätigen kann. Oft ist es schwierig, sie gebührend in den Beratungsprozess einzubeziehen, einerseits aus praktischen Gründen (Arbeitszeit), aber auch, weil klassische Beratungsangebote nicht unbedingt ihren Bedürfnissen entsprechen.
    Innerhalb des Vereins Aspergerhilfe Nordwestschweiz ist in diesem Zusammenhang eine Initiative für einen Väter-Treff entstanden. Ziel ist es, Väter spezifisch bei ihren Schwierigkeiten zu unterstützen, zum Kind eine gute Beziehung aufzubauen. Dazu dienen auch Vater-Kind-Nachmittage mit konkreten kindsgerechten Aktivitäten, welche vom Väter-Treff organisiert und angeregt werden. Erste Erfahrungen haben bereits stattgefunden, mit vorwiegend positiven Rückmeldungen.

    Liebe Esther Schmid
    bei den von Ihnen beschriebenen Besonderheiten handelt es sich keineswegs um eine Zwangsstörung. Es handelt sich um sensorische Besonderheiten bzw. eine sensorische Überempfindlichkeit, und zwar in den für Autismus-Betroffene typischen Bereichen der Gerüche und der Berührungen.
    Ein erster Schritt ist aus meiner Sicht, dass diese Besonderheiten nicht als krankhaft betrachtet werden, sondern als Teil von Amys Eigenart. Ich denke, für Amy ist es doppelt schwierig, wenn sie einerseits diese Besonderheiten hat und zusätzlich noch die Rückmeldung bekommt, dass das nicht in Ordnung ist. Geben Sie ihr die Rückmeldung, dass sie - speziell was die Gerüche betrifft - eine besondere Fähigkeit besitzt, und dass es jetzt darum geht, irgendwie einen Umgang damit zu finden. (Es gibt übrigens einen sehr guten Spray, er heisst Febreze, mit welchem man unangenehme Gerüche von Kleidern oder in der Luft beseitigen kann. Die Wirkung ist verblüffend, ich habe das selber erlebt.)
    An Medikamente würde ich erst denken, wenn das Problem unvermindert weiterbesteht und Amy sehr darunter leidet. In Frage käme allenfalls niedrig dosiertes Risperdal.
    Es ist auch denkbar, dass Amy stärker auf solche Umgebungsreize reagiert, wenn sie generell zu sehr unter Stress steht. Vielleicht ist es möglich, im Alltag noch mehr Erholungs- und Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen, insbesondere auch im Schulalltag.
    Th.Girsberger

    Der Kohlhammer-Verlag hat mit mir anlässlich der Publikation meines Buches "Die vielen Farben des Autismus" ein Interview geführt und in seinem Blog veröffentlicht:


    Dr. med. Thomas Girsberger In den letzten Jahren gewinnt das Thema Autismus sowohl unter Fachleuten als auch in der breiten Öffentlichkeit enorm an Bedeutung. Können Sie uns in kurzen Worten erklären, was Autismus ist?


    Unter dem Begriff Autismus fasst man, kurz gesagt, ein Wahrnehmen und Denken zusammen, welches von der Norm (neurotypisch) abweicht. Die Wahrnehmung ist dabei geprägt durch a) eine Bevorzugung von Details gegenüber dem Ganzen, b) einer Beschränkung auf einen Sinneskanal zur gleichen Zeit, und c) einer generellen Bevorzugung des visuellen Kanals. Dies führt zu einer besonderen Art von Denken, welche gut geeignet ist für das Lösen von logischen Problemen, für das Forschen und Tüfteln, aber schlecht geeignet für die zwischenmenschliche Kommunikation und den Umgang mit intuitiven und emotionalen Vorgängen. Da diese Besonderheiten sehr unterschiedlich ausgeprägt und auch oft mit zusätzlichen leichten bis schweren Beeinträchtigungen verbunden sein können, spricht man von einem Autismus-Spektrum. Es enthält zwei Pole, den klassischen oder frühkindlichen Autismus und das Asperger-Syndrom.


    Wie kann man Autismus und das Asperger-Syndrom voneinander abgrenzen?


    ... Wer weiterlesen möchte, folge diesem Link:


    http://blog.kohlhammer.de/medi…elen-farben-des-autismus/

    In meinem zweiten Beitrag über den 10. Europäischen Autismus-Kongress (Budapest 2013) möchte ich das Referat von Dr. Amanda Webster von der Griffith-Universität (Australien) zum Thema nehmen. Es ging darin um die Frage, wie man die schulische Inklusion von Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) verbessern kann. Zitat aus der Zusammenfassung des Referates:
    "Lehrpersonen in öffentlichen Schulen stehen wachsenden Herausforderungen gegenüber. Dies insbesondere auch deshalb, weil es einem internationalen Trend entspricht, Kinder mit speziellen Bedürfnissen in Regelklassen zu integrieren. Die Lehrer berichten, dass sie sich auf diese Entwicklung schlecht vorbereitet fühlen und dass ihnen dabei Kinder mit ASS am meisten Probleme bereiten."
    Die Situation ist umso bedeutsamer, als in der Region, in welcher A.Webster tätig ist (Queensland), mittlerweile 2,3% der Schüler mit einer Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert sind. Dem ist allerdings anzufügen, dass in dieser Zahl auch mildere Ausprägungen der Störung erfasst sind, was aber im Zusammenhang mit schulischer Integration/Inklusion absolut Sinn macht. Kinder mit einer milderen Form von ASS stellen keine geringere Herausforderung an das Schulsystem dar, weil bei ihnen die Ansprüche an schulischen Erfolg automatisch höher angesetzt werden, insbesondere auch von ihnen selbst.
    Die Griffith-Universität in Brisbane bietet deshalb in einem Pilotprojekt allen Lehrpersonen, welche ein Kind mit ASS in ihrer Klasse haben, eine Weiterbildung an. Diese vermittelt ihnen Kenntnisse über die speziellen Bedürfnisse von Kindern mit ASS, und zwar in den drei Bereichen Fächerangebot (curriculum), Lerninhalte (content), und Pädagogik (pedagogy).
    Was mich am meisten beeindruckt hat waren folgende Hinweise über das praktische Vorgehen an den drei berücksichtigten Schulhäusern (mit jeweils zwischen 1000 und 1500 Schülern): an jeder Schule wurde für die Umsetzung der in der Weiterbildung erworbenen Kenntnisse und insbesondere für die Erarbeitung von Standards für das ganze Schulhaus (school-wide action plan) ein sogenanntes "ASD-leadership-team" (ASS-Kompetenz-Team) gebildet. Dieses besteht jeweils aus einer Klassenlehrperson, einer Förder-Lehrperson, einem Mitglied der Schulleitung sowie einer Elternvertretung.
    Am Ende des Referats wurde mir einmal mehr bewusst, wie sehr bei uns in der Schweiz die schulische Inklusion von ASS-Betroffenen noch in den Kinderschuhen steckt. Dies gibt uns aber auf der anderen Seite die Möglichkeit, von den Erfahrungen anderer Länder zu profitieren. Aus dem Referat können schliesslich folgende wichtigen Erkenntnisse formuliert werden:

    • Die Komplexität des Themas Autismus-Spektrum und die relative Häufigkeit desselben werden für die integrative Schule der Zukunft eine grosse Herausforderung darstellen.
    • Es ist gerechtfertigt, dass grosse Anstrengungen von Seiten der Behörden und Kantone unternommen werden, um die mit der Inklusion eines ASS-Kindes betrauten Schulhäuser und Lehrpersonen weiterzubilden und anzuleiten. Jedes grössere Schulhaus braucht dazu ein eigenes Kompetenz-Team.
    • Bei der Ausarbeitung und Umsetzung von ASS-spezifischen Lernangeboten und Lernsettings sollen auf allen Ebenen auch Vertreter der Eltern bzw. Erziehungsberechtigten verbindlich mit einbezogen werden.

    Ich möchte meine Berichterstattung mit einem Thema zur Diagnostik beginnen, da dies doch offenbar viele beschäftigt und interessiert.
    In Budapest wurde oft auf das neue Diagnose-System DSM-5 Bezug genommen, insbesondere auch in einem Referat im Plenum von Joaquin Fuentes (Spanien). Zur besseren Lesbarkeit möchte ich den Beitrag gerne in einer Frage-Antworte-Form präsentieren:


    Was heisst DSM-5?


    Das Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorder (DSM) ist ein wichtiges Diagnose-System für sämtliche psychischen Störungen und wird von der amerikanischen (USA) Psychiater-Vereinigung herausgegeben. Die letzte Version (DSM-IV) stammte aus dem Jahre 1994 und war insbesondere im Bereich Autismus völlig veraltet und überholungsbedürftig. Im Frühling 2013 ist nun also nach fast 20 Jahren die 5. Version erschienen.


    Was ist neu im Bereich Autismus ?


    Neu ist in erster Linie, dass die Vielfalt von verwirrenden Begriffen (Autismus, Asperger, Atypischer Autismus, Tiefgreifende Entwicklungsstörung, Rett-Syndrom, usw.) ersetzt wurde durch den einheitlichen Begriff Autismus-Spektrum-Störung. Dieser Begriff wurde möglichst genau definiert, so dass er auf der ganzen Welt einheitlich gebraucht wird. Dies ist insbesondere für die Forschung sehr wichtig.


    Was ändert sich nun für die Betroffenen ?


    Für die Betroffenen ändert sich vorerst gar nichts. Es muss betont werden, dass das DSM-5 primär nur für die USA verbindlich ist und es ist offen, wie weit der Rest der Welt diese Veränderungen mitmacht. Dies wird endgültig klar, wenn die 11. Version des ICD-Katalogs erscheint (International Classification of Disease), und dies wird frühestens 2015 der Fall sein.
    Mittelfristig ist zu erwarten, dass Autismus-Spektrum-Störungen aufgrund der neuen diagnostischen Kriterien etwas enger gefasst und vermutlich etwas weniger häufig diagnostiziert werden. Dies gilt selbstverständlich in erster Linie für Länder und Gegenden, wo Autismus heute in bis zu einem Prozent der Bevölkerung diagnostiziert wird (England, USA, Australien, Skandinavien), was im deutschsprachigen Raum bis jetzt keineswegs der Fall war.


    Wo liegen die Vorteile des DSM-5?


    Abgesehen von der Klärung und Vereinheitlichung der Begriffe sehe ich einen grossen Vorteil darin, dass dem klinischen Diagnostiker doch ein gewisser Spielraum gewährt wird. So wird z.B. mehrfach darauf hingewiesen, dass sich durch vergangene und aktuelle therapeutische Bemühungen das Erscheinungsbild von Autismus erheblich verändern kann und für eine Diagnose nie alle im DSM-5 aufgezählten diagnostischen Kriterien gleichzeitig erfüllt sein müssen. Entsprechend wichtig ist eine möglichst genaue Erfassung der Vorgeschichte und die Berücksichtigung der vergangenen und aktuell laufenden Massnahmen. Zudem wird die Symptomatik in 3 Schweregrade eingeteilt, die sich durch die Intensität des Unterstützungsbedarfs unterscheiden: moderat, mittelgradig, und intensiv.

    Was geschieht mit weniger stark Betroffenen, die dennoch Hilfe benötigen?


    In den USA hat bereits eine heftige Diskussion begonnen rund um die Befürchtung, dass Kinder, die bisher die Diagnose Asperger-Syndrom oder "Nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung" erhielten, in Zukunft durch die Maschen fallen könnten. Dabei muss allerdings folgendes beachtet werden:
    In engem Zusammenhang mit dem Kapitel Autismus-Spektrum wird im DSM-5 eine neue Diagnose-Kategorie eingeführt, welche im Original "Social Communication Disorder" heisst (deutsch: Störung der sozialen Kommunikation). Hier würden genau jene Kinder erfasst, welche bisher zum sogenannt milden Teil des Autistischen Spektrums gehörten. Es versteht sich von selbst, dass auch diese Diagnose-Kategorie zu entsprechenden Unterstützungs- und Therapiemassnahmen berechtigt, nur werden diese in der Regel weniger intensiv und weniger frühzeitig nötig sein.


    Wird es den Begriff Asperger-Syndrom in Zukunft also nicht mehr geben?


    Die Antwort lautet Ja und Nein. Es ist absehbar, dass es auf offizieller wissenschaftlicher Ebene (Forschung!) in Zukunft diesen Begriff irgendwann nicht mehr geben wird. Auf der anderen Seite hat sich der Begriff Asperger-Syndrom auf der ganzen Welt als Synonym für all jene etabliert, welche zwar über gute sprachliche und intellektuelle Fähigkeiten verfügen, auf Grund ihrer sozio-emotionalen Schwierigkeiten aber dennoch auf Unterstützung angewiesen sind und nach wie vor einem grossen Risiko ausgesetzt sind, im Erwachsenen-Alter ohne Beschäftigung dazustehen. Diese Betroffenen und ihre Angehörigen werden den Begriff Asperger-Syndrom weiter benutzen und sich damit identifizieren. Auch Joaquin Fuentes, welcher als Kinder- und Jugendpsychiater die Seite der Fachleute vertrat, argumentierte in diesem Sinn. Die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung klassifiziert Symptome, nicht Menschen. Die Betroffenen sollen selber entscheiden, wie und mit welchen Begriffen sie sich selber charakterisieren möchten. Dies bedeutet ja insbesondere auch, sich nicht nur darüber zu definieren, was man nicht gut kann, sondern auch über seine besonderen Fähigkeiten.

    Seroquel und Quetiapin enthalten denselben Wirkstoff aus der Gruppe der atypischen Neuroleptika. Diese Medikamente werden mit Erfolg sowohl bei Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen angewandt wie natürlich auch bei Erwachsenen, für welche diese Medikamente in erster Linie entwickelt wurden. Häufigster Nebeneffekt (dosisabhängig!) ist eine leichte Sedation (Müdigkeit). Andere Nebenwirkungen sind selten und es ist nicht ratsam, diese Nebenwirkungs-Listen im Beipackzettel zu studieren, ohne mit dem verschreibenden Arzt/Ärztin darüber zu reden. Eine Abhängigkeit von atypischen Neuroleptika habe ich noch nie beobachtet und auch noch nie davon gehört.

    Ich möchte die provozierenden Aussagen von Frau Kronenberg nicht unkommentiert lassen. Solche Äusserungen hört man immer dann, wenn ein neues Phänomen auftaucht, das von Leuten, die weit weg von der Praxis sind, nicht verstanden wird.
    Die Tatsache, dass vermehrt Autismus-Spektrum-Diagnosen gestellt werden, entspricht einer weltweiten Entwicklung und hat solide wissenschaftliche Grundlagen. Die Schweiz hat in dieser Beziehung sogar einen Nachholbedarf, das heisst, in der Vergangenheit wurden viel zu wenig Autismus-Diagnosen gestellt.
    Und hier muss ein erstes Missverständnis geklärt werden: Kinder, die früher (zu Unrecht) keine Autismus-Diagnose erhielten, waren ja nicht einfach "normal" bzw. "unauffällig". Sie erhielten einfach andere Diagnosen und Etiketten, wie z.B.: Emotionale Störung, Verhaltensstörung, schwererziehbar, Resultat unfähiger Eltern, usw. Und vor allem: auch diese Kinder "verschlangen" Ressourcen, nur einfach die falschen, was am Schluss für alle teurer zu stehen kam.
    Ein zweites Missverständnis betrifft nun die Ressourcen selber. Autismus-Diagnosen werden in aller erster Linie gestellt, um den Betroffenen wirksam helfen zu können. Das ist der Sinn jeder Diagnose. Im Falle von Autismus ist die wichtigste Konsequenz aus der Diagnose nicht das Einfordern von Ressourcen, sondern das Einfordern von Verständnis, und das kostet vorerst einmal gar nichts. Dies gilt insbesondere auch für die Schule, wo die Integration eines Kindes des Autismus-Spektrums dann gut gelingt, wenn die Rahmenbedingungen den Bedürfnissen des Kindes angepasst sind. Natürlich kostet das manchmal etwas, v.a. wenn eine zusätzliche Betreuung eingestellt werden muss. Aber: die Alternative dazu wäre ja eine (teure) Sonderschule und nicht irgendeine magische Lösung zum Nulltarif. Anderseits ich habe schon oft beobachten können, dass der verständnisvolle Umgang mit dem Kind allein schon genügte, um eine positive Entwicklung in Gang zu setzen.
    Drittens steht nirgends geschrieben, dass z.B. eine Asperger-Diagnose automatisch irgendwelche teuren Massnahmen nach sich zieht. Vielmehr ist es so, dass im neuen Standardisierten Abklärungsverfahren (Sonderschulkonkordat!) die Bedürfnisse des Kindes anhand des Diagnose-Systems ICF (International Classification of Functionning) beschrieben werden. Begriffe wie Autismus oder Asperger kommen darin nicht vor. Wenn also z.B. ein Arzt eine Asperger-Diagnose stellt und im Standardisierten Abklärungsverfahren (SAV) dem Kind im Schulalltag nur wenig Defizite zugeschrieben werden, dann werden auch keine besonderen Massnahmen - insbesondere keine verstärkten - ausgelöst. Massgeblich ist das SAV und nicht die psychiatrische Diagnose, und das ist auch richtig so.
    Und viertens möchte ich klarstellen: die Integration eines Kindes aus dem Autismus-Spektrum ist umso teurer, je integrationsfeindlicher das schulische Umfeld als Ganzes ist, also muss vor allem dort der Hebel für Veränderungen angesetzt werden.

    Guten Tag, und willkommen im Forum, wesi22.
    Ich möchte Ihnen in Ihrer Grundaussage unbedingt Recht geben. Es wäre wichtig für eine erfolgreiche Integration, dass die anderen Kinder und deren Eltern über das Anderssein des Kindes mit Autismus informiert werden. Der Unterschied zu den Brillen tragenden Kindern liegt eben darin, dass solche üblichen Beeinträchtigungen leicht beobachtbar und nachvollziehbar sind. Sie führen meist auch nicht zu sozial unangemessenem Verhalten. Ein guter Leitfaden, wie man andere Kinder informieren kann, wird in der soeben erschienenen Broschüre "Der sechste Sinn" (siehe den Beitrag in diesem Forum!) beschrieben.
    Allerdings macht die Haltung der Mutter des betroffenen Kindes die Sache für Sie sehr schwierig. Ich würde noch einmal versuchen, mit dieser Mutter ins Gespräch zu kommen. Sagen Sie ihr, dass Sie sich in der Zwischenzeit kundig gemacht haben und dass Fachleute die Information an andere Kinder und Eltern als notwendig erachten unbedingt empfehlen. Andernfalls droht dem Kind früher oder später das Zurückgewiesenwerden durch Andere und soziale Isolation.
    Das Thema Körperkontakt, das Sie ansprechen, ist übrigens ein gutes Beispiel dafür, dass es kaum eine Aussage über Autismus gibt, die auf alle Betroffenen zutrifft. In der Regel ist es so, dass ein Kind mit Autismus den Körperkontakt dann schätzt, wenn es ihn selber initiiert, und eher ablehnt, wenn er vom Gegenüber kommt, absichtlich oder unabsichtlich.

    Als Arzt mit dem Spezialgebiet Asperger-Syndrom werde ich natürlich auch regelmässig in das Thema "Diensttauglichkeit" einbezogen.
    Die hier in diesem Forum angesprochenen Probleme und Widersprüche sind m.E. sehr typisch für dieses Thema. Dies hat verschiedene Gründe:
    1) Asperger-Syndrom ist eine klinische Diagnose mit einer grossen Vielfalt an Symptomen und Betroffenheitsgraden. Es gibt weder ein "typisches" Asperger-Syndrom noch gibt es klare und allgemein akzeptierte Richtlinien, wie diese Diagnose gestellt wird und wo die Grenze zum Neurotypischen verläuft. Es gibt auch keinerlei Konsens, was man mit dieser Diagnose alles kann bzw. nicht kann oder was man darf bzw. nicht darf.
    2) Unter den Betroffenen gibt es viele (ich nehme an die grosse Mehrheit), die keinen Militärdienst leisten wollen bzw. sich einen solchen Dienst nicht zutrauen. Andere hingegen möchten unbedingt Dienst leisten, um zu beweisen, dass sie dazu fähig sind.
    3) Als behandelnder Arzt betrachte ich nicht die Diagnose "Asperger-Syndrom" per se als Hinderungsgrund für den Militärdienst, sondern die damit allenfalls verbundenen Besonderheiten wie Stressintoleranz, sensorische Überempfindlichkeiten, Angst vor grossen Menschenansammlungen, usw. Wenn jemand trotz solcher Besonderheiten Militärdienst leisten möchte, dann würde ich ihm sicher nicht im Weg stehen. Aber: die Entscheidung, ob jemand diensttauglich ist, wird schlussendlich von Militärärzten gestellt. Diese haben entweder keine Ahnung von Asperger-Syndrom und treffen deshalb Fehlentscheide oder zumindest fragwürdige Entscheide. Oder sie haben sehr wohl eine Ahnung und handeln nach dem Prinzip: keine Risiken eingehen, auf Nummer sicher gehen, und deshalb grundsätzlich ablehnen.


    Ich bin der Meinung, dass man nicht verpflichtet ist, die Diagnose "Asperger-Syndrom" offenzulegen, sei es beim Militär oder bei einer Stellenbewerbung. Die Offenlegung hat Vor- und Nachteile bzw. Risiken, die Geheimhaltung ebenso.
    Wenn jemand einzig auf Grund der Diagnose Asperger-Syndrom von einem Beruf oder vom Militär ferngehalten wird, dann ist das eine Diskriminierung und kann/sollte rechtlich angefochten werden.

    So wie ich die Situation beurteile, braucht Ihr Sohn unbedingt eine Schulbegleitung, entweder in Form einer Heilpädagogin oder einer Sozialpädagogin. Der Vorteil der Option Sozialpädagogin ist, das da wesentlich mehr Stunden gesprochen werden können. Am Anfang braucht ein Kind aus dem Autismus-Spektrum zur schulischen Integration in der Regel eine relativ intensive Einzel-Begleitung, die dann später abgebaut werden kann. Es ist sehr zu hoffen, dass die beteiligten Fachleute von SPD und KJPD das auch so sehen und entsprechende Massnahmen in die Wege leiten.

    Nachteilsausgleich bei Autismus-Spektrum-Störungen


    Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen haben besondere schulische Bedürfnisse im Vergleich zu Nichtbetroffenen. Damit sie optimal schulisch gefördert werden können, sollten sie wenn immer möglich in eine Regelklasse integriert werden. Wegen ihrer besonderen Bedürfnisse benötigen sie dabei aber mehr oder weniger individuelle Unterstützung (Begleitung, Assistenz). Auf diesen Aspekt soll in diesem Text nicht näher eingegangen werden.
    Hier geht es darum, zu erläutern, dass diese integrativ geschulten Autismus-Spektrum-Kinder und -Jugendlichen nicht nur während des Unterrichts besondere Bedürfnisse haben, sondern auch bei der Leistungsbewertung (Benotung).


    Die Leistungserhebung und -bewertung orientiert sich grundsätzlich an den fachlichen Anforderungen der Bildungspläne des jeweiligen Schultyps. Bei Kindern aus dem Autismus-Spektrum soll nicht a priori von diesen für alle gültigen Lernzielen abgewichen werden. Vielmehr sollen individuelle Bedingungen bei der Leistungserhebung und Leistungsbewertung im Sinne des Nachteilsausgleichs gewährt werden.


    Worin besteht nun im Bereich des Autismus-Spektrums der allfällige Nachteil, der bei der Leistungsbewertung ausgeglichen werden soll? Diese Frage kann nicht allgemein für alle in diesem Bereich Betroffenen beantwortet werden, und dies stellt einen ganz wesentlichen Unterschied zu anderen, mehr umschriebenen Beeinträchtigungen dar. Als Beispiele seien hier genannt: Beeinträchtigungen des Sehens oder des Hörens, Legasthenie, usw. Das heisst, für jedes Kind mit einer Autismus-Spektrum-Diagnose muss der Nachteilsausgleich individuell festgelegt werden.


    Grundsätzliches


    Dennoch ist es möglich, einige Aspekte aufzuzählen, die im Zusammenhang mit Leistungsbeurteilung auf praktisch alle Kinder aus dem Autismus-Spektrum zutreffen:


    1) Kinder aus dem Autismus-Spektrum haben keinen natürlichen Bezug zu den Bereichen Wettbewerb und Leistungsorientierung. So kommt es immer wieder vor, dass sie während einer Prüfung nicht "vorwärtsmachen" und nicht "Gas geben", sondern z.B. an einem Detail herum studieren. Bei Unsicherheiten lassen sie die Antwort lieber ganz wegfallen als eventuell etwas zu schreiben, was nicht ganz korrekt ist. Prüfungsblätter werden deshalb oft nur unvollständig abgegeben.
    Oft ist es auch so, dass wegen semantischer Verständnisprobleme Prüfungsfragen nicht richtig verstanden werden. Das betreffende Kind schreibt dann etwas völlig Falsches, was gar nicht gefragt wurde, oder eben es schreibt gar nichts.
    Angesichts dieser beschriebenen Schwierigkeiten sollte der Nachteilsausgleich darin bestehen, dass das betreffende Kind die Prüfung in einem separaten Raum mit einer Begleitperson absolvieren kann. Diese Begleitperson kann rein sprachlich-semantische Probleme lösen helfen und darauf achten, dass das Kind die Zeit nicht aus den Augen verliert. Bei Blockaden kann es ermuntert werden, weiterzumachen. Alle diese Massnahmen haben nichts damit zu tun, dass das Kind weniger leisten muss oder dass ihm inhaltlich geholfen wird.


    2) Andere Probleme können sich aus sensorischen Überempfindlichkeiten ergeben: optisch, akustisch, usw. Auch hier ist es sinnvoll, das Kind in einem anderen Raum arbeiten zu lassen oder den Arbeitsplatz speziell anzupassen/abzuschirmen.


    3) Bei vielen Kindern des Autismus-Spektrums kommt zudem eine ungünstige Kombination von Perfektionismus und motorischer Unzulänglichkeit zum Tragen. Dies wirkt sich natürlich bei schulischen Arbeiten, Hausaufgaben usw. im Allgemeinen negativ aus, ist aber insbesondere auch bei Prüfungen hinderlich. Hier kann die Gewährung von mehr Zeit sehr hilfreich sein, um Stress zu reduzieren.


    Spezielle Regelungen für die Abschlussprüfungen und Zeugnisse


    Für die Gestaltung von Abschlussprüfungen gelten die gleichen Prinzipien wie bei der Leistungserhebung und -bewertung im Unterricht. Die Massnahmen des Nachteilsausgleichs müssen jedoch für jedes Prüfungsfach zuvor von der Schulleitung genehmigt werden.
    Hierzu zwei Beispiele:
    •Zulassung von Begleitpersonen bei Abschlussprüfungen
    •Festlegung, in welcher Form „Mündliche Prüfungen“ abgenommen werden.


    In den Unterrichtsfächern, in denen behinderungsspezifische Nachteile aufgrund der Gegebenheiten des Faches nicht durch Maßnahmen im Sinne des Nachteilsausgleichs kompensiert werden können, sollte die Frage der Benotung im Einzelfall geprüft werden.


    In Zeugnissen dürfen die Massnahmen des Nachteilsausgleichs nicht aufgeführt werden!


    Der Nachteilsausgleich im Einzelnen


    Wie nun der Nachteilsausgleich individuell gestaltet werden kann, wird in einem nächsten Beitrag (von Edith Hörler) anhand einer ganzen Reihe von konkreten Beispielen genauer ausgeführt. So wie das Autismus-Spektrum eine grosse Vielfalt von Kindern umfasst, so müssen auch die Massnahmen des Nachteilsausgleichs dieser Vielfalt individuell gerecht werden.

    Guten Tag Herr Bellofatto


    Vielen Dank für Ihre Ausführungen. Eine Frage bschäftigt mich jedoch noch. Gilt das alles auch für Erwachsene, also für Leute die sich im Studium befinden? Kann man da auch bedingt durch das Asperger-Syndrom Nachteilsausgleiche bei Prüfungssituationen erwirken?


    Vielen Dank für Ihre Bemühungen.


    Ich bin der Überzeugung, dass ein Nachteilsausgleich in jeder Ausbildungssitation eingefordert werden kann, sei dies nun in Schule, Berufslehre, Studium oder sonst einer beruflichen Weiterbildung.
    Das aktuelle Problem besteht v.a. in der grossen Rechtsunsicherheit und in der Tatsache, dass der Nachteilsausgleich überhaupt eingefordert werden muss. Deshalb haben wir von Autismus Forum Schweiz dieses Thema lanciert.

    Im Papier steht: "Ihre kognitive und sprachliche Entwicklung nimmt hingegen einen normalen Verlauf, d.h., es treten keine bedeutsamen Verzögerungen auf..."


    Liebe Monica, dieses Zitat aus dem entsprechenden Merkblatt der Nathalie-Stiftung bezieht sich auf das Asperger-Syndrom und nicht auf das Autismus-Spektrum insgesamt. Ich verstehe aber gut, dass dieses Missverständnis entstehen kann, denn der zitierte Satz steht unter dem Titel "Autismus-Spektrum-Störungen". Das Lay-Out ist diesbezüglich ungeschickt.
    Tatsächlich liegt aber genau in diesem Missverständnis eine grosse Schwierigkeit verborgen: Kinder aus dem Autismus-Spektrum sind sehr verschieden - gerade was die Sprachentwicklung anbetrifft - und entsprechend verschieden muss der Nachteilsausgleich gestaltet sein. Autismus-Forum Schweiz wird in seinen Beiträgen zum Nachteilsausgleich bestrebt sein, hier mehr Klarheit zu schaffen.

    Gerne entspreche ich dem bereits mehrfach geäusserten Wunsch, meine hauptsächliche Quelle anzugeben:
    "The Genetics, Epigenetics und Proteomics of Asperger's Disorder", Maria E. Johnson und Jeffrey L. Rausch, in:
    "Asperger's Disorder", Edited by Jeffrey L. Rausch et al., Medical Psychiatry Series 40

    Ich möchte im folgenden einen Beitrag schreiben zum aktuellen Wissensstand über die Bedeutung der Genetik bei Autismus.


    Hans Asperger
    Hans Asperger war ein Wiener Kinderarzt, welcher vor bald 70 Jahren in sehr pionierhafter Weise erstmals das Phänomen Autismus beschrieb. Bereits für ihn war klar, dass es sich um eine vererbbare Eigenschaft handelt. Alle seine Vorhersagen in diesem Zusammenhang haben sich gemäss aktueller Forschung als richtig erwiesen: 1) die Vererbung läuft nicht einfach über ein bestimmtes Gen, sondern ist sehr komplex auf mehrere Gene verteilt, 2) das männliche Geschlecht ist wesentlich häufiger betroffen als das weibliche, 3) trotz ähnlicher Erbanlangen kann die Betroffenheit sehr verschieden sein: Geschwister und Eltern von Kindern mit Autismus sind manchmal auch in milder Form betroffen bzw. können Charakterzüge aufweisen, die dem Autismus ähnlich sind.


    Aktuelle Forschung
    In einem englischsprachigen Fachbuch, das die aktuelle Forschung zusammenfasst, werden insgesamt 17 charakteristische Gene aufgezählt, welche in Zusammenhang mit Autismus identifiziert wurden. Diese Gene sind auf 10 verschiedene Chromosomen verteilt, 2 davon auf dem X-Chromosom. Das sind konkrete Forschungsergebnisse und nicht einfach Spekulation. Völlig unklar ist allerdings nach wie vor, welche Rolle diese Gene im Einzelnen spielen und welche Kombination von Genen vorhanden sein muss, damit Autismus als Störungsbild auftritt. Als zusätzlicher Faktor kommt noch die sogenannte Epigenetik hinzu. Vereinfacht gesagt bedeutet Epigenetik, dass selbst bei identischen Erbanlagen unterschiedliche Gen-Aktivitäten resultieren können. Die Aktivität eines Gens kann "eingeschaltet" oder "ausgeschaltet" werden, und diese Vorgänge sind von Umwelteinflüssen abhängig! Lange hielt man dies für unmöglich. Es würde aber gut zur Tatsache passen, dass Autismus zwar vorwiegend (90%), aber nicht ausschliesslich durch Vererbung erklärt werden kann. Es scheint dabei so zu sein, dass beim frühkindlichen Autismus Umwelteinflüsse eine grössere Rolle spielen als beim Asperger-Syndrom.


    "Warum ist Autismus im evolutionären Prozess nicht verschwunden?"
    Diese Frage wurde von einem weiteren Pionier auf dem Gebiet des Autismus, Michael Rutter, am Europäischen Autismuskongress (Catania, 2010) rhetorisch gestellt. Wenn man nämlich dieser Frage konsequent nachgeht, kommt man zum Schluss, dass es sich beim Autismus um ein Phänomen handelt, das nicht nur mit Defiziten/Nachteilen verbunden sein kann, im Gegenteil. Detail-Orientierung, Genauigkeit und Hartnäckigkeit, um einige Beispiele zu nennen, sind in bestimmten Berufen/Funktionen ein Vorteil, und vermutlich war das eben schon in der Zeit der Jäger und Sammler so, in jener Epoche von mehreren hunderttausend Jahren Dauer also, wo sich das Erbgut des modernen Menschen (Homo sapiens) herausbildete. Das heisst, dass Menschen mit autistischen Eigenschaften in der Gesellschaft immer schon auch eine nützliche Rolle gespielt haben müssen, sonst wäre diese Eigenschaft im Laufe der Evolution verschwunden.
    Dazu würden Forschungsergebnisse aus einem ganz anderen Bereich gut passen: In der Biologie beschäftigten sich Evolutionsbiologen bisher überwiegend mit einem abstrakten Durchschnittstier. Nun wurde aber gemäss einem neuen Modell erkannt, dass die Überlebenschancen einer Population steigen, wenn sie über unterschiedliche Tierpersönlichkeiten verfügt. Wenn die Individuen in ihren Verhaltensmerkmalen variieren, kann sich die Population als Ganzes schneller auf neue Umweltbedingungen einstellen. Innert weniger Generationen ist die Anpassung an einen neuen Lebensraum so möglich. Im Extremfall entscheidet diese Variabilität über das Überleben oder Aussterben einer Population. (Quelle: Tiere mit Charakter, NZZ vom 2.11.2011) Es ist sehr plausibel, dass das auch bei menschlichen Gemeinschaften schon immer so war.

    Diese Information ist richtig. Eine sehr zuverlässige Studie in England (Baird et al., Lancet 2006) hat ergeben, dass 116 von 10'000 Kindern im Autismus-Spektrum angesiedelt sind. Das entspricht ziemlich genau der Zahl von 1:88. Es ist einfach wichtig zu betonen, dass in den letzten 30 Jahren der Begriff Autismus zum Autismus-Spektrum erweitert wurde und somit auch Kinder erfasst werden, die weniger stark betroffen und für Laien (und nicht-spezialisierte Fachleute!) nicht ohne Weiteres erkennbar sind.