Hallo,
ich möchte die Theorien mal aus der Sicht eines Autisten beleuchten und einfach mal den Versuch starten die „andere Seite“ aufzuzeigen.
Zur Theory of Mind:
Ich gebe offen zu: Sie ist und war mir immer ein Rätsel. Einfach ausgedrückt: Wie soll ich bitte erraten was eine andere Person fühlt oder denkt? Ich bin nicht die andere Person. Ich habe weder ihre Lebenserfahrung noch weiß ich was diese Person geprägt hat. Letztendlich ist die Theory of Mind dann doch nichts anderes als ein munteres Ratespiel. Ob man richtig liegt oder nicht wird man nie erfahren.
„Mit dem Begriff „Theory of Mind“ ist die Fähigkeit gemeint, psychische Zustände (Gefühle und Gedanken) anderer Personen und sich selbst zuzuschreiben, also die Fähigkeit, die eigenen Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten und Vorstellungen und diejenigen Anderer zu erkennen, zu verstehen und vorherzusagen (Remschmidt et al. 2006).“
Ich komme hier schon fast an ein Paradoxon. Auf der einen Seite ist es mir ein Bedürfnis möglichst viel vorauszuplanen damit ich eine gewisse Sicherheit habe. Bei anderen Menschen jedoch empfinde ich es, auch auf mich selbst übertragen, als einen ganz intimen Eingriff wenn jemand versucht mich vorherzusehen. Ich würde mich dann nämlich manipuliert fühlen. Anders ausgedrückt: Wenn jemand meine Reaktionen vorhersehen kann weiß er auch wie er eine von ihm gewünschte Reaktion provozieren kann. Vorhersehbar zu sein empfinde ich als sehr unangenehm. Und weil ich das für mich so empfinde werde ich auch nicht versuchen jemand anderen und seine Reaktionen vorherzusehen. Auch wenn es viel Kraft kosten kann mit „Überraschungen“ umzugehen, so ist doch genau diese Freiheit das was ich an anderen Menschen schätze. Dass sie so sind wie sie eben sind, und nicht wie ich es vielleicht gerne hätte und steuern könnte. Vielleicht mag ich auch deshalb Gespräche mit Verkäufern nicht wirklich. Sie sind für mich nämlich ganz klar vorhersehbar und das eben auch in ihrer Absicht mich mit Worten manipulieren zu wollen. Und das ist kein Verfolgungswahn sondern Verkaufspsychologie
„Das Wissen darüber, dass jede Person Gedanken und Gefühle hat und dass diese sich von denen anderer Personen unterscheiden können, bildet die Grundlage für das Verstehen sozialer Situationen (Colle et al. 2006).“
Auch hier sehe ich die Sache differenziert und etwas gespalten. Ich denke jeder Autist wird sich früher oder später im Leben darüber klar, dass sich seine Gedanken und Gefühle massiv von denen der anderen Menschen um ihn herum unterscheiden. Ein Aspekt der erheblichen Leidensdruck verursachen kann. Ich denke sogar das Autisten sich genau über diesen Punkt sehr viel klarer sind als nichtautistische Menschen. Diese neigen doch dazu, ihre Sichtweise von Dingen für gültig zu erklären. Das Bild „Autisten leben in ihrer eigenen Welt“ ist so entstanden. Durch Außenbeobachtungen und Schlussfolgerungen aufgrund der Erfahrungswerte von Nichtautisten. Man schloss aus gewissen Verhalten eben daraus das Autisten in ihrer eigenen Welt leben müssen und damit auch von der Außensicht auf die Innensicht und das beides Deckungsgleich ist.
„Im Alltag zeigt sich der Mangel an Theory of Mind oft darin, dass Menschen mit ASS Doppelbödigkeiten nicht verstehen, da sie sich auf den Inhalt von Aussagen fokussieren ohne die Prosodie und/oder die Mimik in die Interpretation mit einzubeziehen. Daher haben sie z.B. im Verstehen von Witzen und Ironie Schwierigkeiten.“
Provokant gefragt: Liegt hier der Fehler in dem Nichtverstehen von Doppeldeutigkeiten? Oder doch vielmehr in der Verwendung derselben? Ich höre nur allzu oft, dass sich auch Nichtautisten eine klarere Sprache wünschen und dass diese wesentlich einfacher, umgänglicher und stressfreier ist. Und mal Hand aufs Herz: Doppeldeutigkeiten bzw. versteckte Botschaften sind letztendlich nur eines: Das sich um die direkte Aussage und die Wahrheit drum herum drücken. Warum sonst verpackt man unangenehme Aussagen? Was Witze betrifft: Auch Nichtautisten verstehen nicht alle Witze oder finden diese Witzig.
Zentrale Kohärenz:
Eine Theorie in der ich mich mit meinen Autismus noch am ehesten wiederfinden kann. In meinem Vortrag über die „Stärken der autistischen Wahrnehmung“ nimmt die Zentrale Kohärenz auch einen wichtigen Platz ein.
„Bei Menschen mit ASS ist die Fähigkeit zur zentralen Kohärenz beeinträchtigt. Dagegen ist die Tendenz, Reize isoliert und kontextfrei zu verarbeiten stark.“
Hier wurde ich den Grund weniger in der Fähigkeit an sich suchen, sondern in der Reizverarbeitung im Gehirn. Autisten nehmen, in meinen Augen, die Reize bevorzugt isoliert und kontextfrei wahr da diese, und hier liegt der Unterschied zum Nichtautisten, nicht oder nur eingeschränkt vom Thalamus vorgefiltert werden. Bei Nichtautisten werden Sinnesreize schon vor dem Übergang in das Bewusstsein im Bereich des Thalamus gefiltert und auch priorisiert (z.B. Gefahrreize). Werden die Reize jedoch fast ungefiltert in das Bewusstsein übertragen, ist es die Aufgabe des Autisten diese im Bewusstsein zu analysieren und wieder in einen Kontext zu bringen.
„Es wird oft von einer ausgeprägten Detailwahrnehmung bei Menschen mit ASS gesprochen. Studien konnten zeigen, dass Menschen mit eine leichten Form einer ASS dazu in der Lage sind, ganzheitlich wahrzunehmen, wenn sie explizit dazu aufgefordert werden.“
Das sehe ich nicht ganz so. Nehmen wir das Beispiel mit den vielen Bäumen. Ein Nichtautist neigt dazu einen Wald zu sehen, ein Autist die einzelnen Bäume. So wieder der Nichtautist aber auch die Bäume in einem zweiten Schritt wahrnimmt schließt ein Autist aus den Bäumen einen Wald.
Oder anders gesagt: Die einen sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Als Autist sehe ich viele Bäume und weiß das es ein Wald sein muss
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