Liebe Salina
Ich finde es sehr schön, wie du deinen Freund wahr nimmst und wie du ihn eigen sein lässt. Du kannst ihn ja mal drauf ansprechen, dass du denkst, er könnte ein Asperger sein. Mein Sohn ist Asperger und ich bin überzeugt davon, dass mein Mann auch einer ist. Er sagt oft, dass er sich genau gleich wie unser Sohn verhalten habe als Kind und dass er ihn sehr gut verstehen kann. Eigentlich ist es uns beiden klar, dass mein Mann auch Asperger ist, aber es ist gar nicht so wichtig, eine Diagnose zu haben, schliesslich gilt es ja darum, damit leben zu können. Das ist eigentlich die die Herausforderung für dich (um ihn und seine Eigenheiten zu akzeptieren und auf gewisse wichtige Dinge zu verzichten) und für ihn (um gewisse Regeln des Zusammenlebens zu akzeptieren und es auszuführen, auch wenn ihm nicht danach ist).
Ich muss sagen, eine Beziehung mit einem Asperger Mann ist ziemlich anstrengend und es tut auch oft weh. Leider kann mein Mann keine Empathie empfinden, ausser er kann sich direkt identifizieren mit Jemandem (wie bei unserem Sohn). Als Vater sieht er seine Kinder einfach als kleine Ausgaben seiner selbst.
Ich werde oft vor eiskalte Wahrheiten gestellt und ich weiss, er merkt nicht, wie weh mir das tut. Darüber diskutieren ist nicht möglich, weil er meine Position nicht versteht. Es nützt einzig, dass auch er sehr tolerant mir gegenüber ist und wie oben erwähnt, einfach akzeptiert, dass es so ist, aber verstehen tut er es nicht. Wir leben zwar miteinander, aber jeder auf seiner Schiene. So habe ich mir das eigentlich nie vorgestellt, aber es hat auch seine Vorteile, da ich sehr freiheitsliebend bin. Probleme wie Eifersucht, sich benachteiligt sehen, zuwenig Zeit für sich selbst zu haben, haben wir zum Glück nicht und gerade, wenn man Kinder hat (wir haben drei), ist dies sehr von Vorteil.
Die Kommunikation ist bei uns sehr schwierig, da er ganz genaue Vorstellungen davon hat, wie ein Gespräch ablaufen muss. Er erwartet, dass ein Gespräch, das er beginnt, ganz genau zu einem von ihm gewählten Ziel hinführt. Ein Gespräch macht sonst für ihn keinen Sinn und wenn ich meine Meinung / Vorstellung / Inspiration dazu sage, fühlt er sich unverstanden und verschliesst sich sofort. Also will er eigentlich gar kein Gespräch oder gar keine Diskussion führen, sondern er will mir eigentlich nur etwas mitteilen. Wenn ich mit etwas auf ihn zukomme und ein Gespräch mit ihm führen will, dann muss ich mich gut vorbereiten und einen ganzen Katalog von Regeln berücksichtigen, damit ich auch eine Antwort von ihm bekomme. Zum Beispiel darf ich keine Einleitende-Floskel-Frage stellen, auf die ich keine Antwort von ihm erwarte (wie zum Beispiel: "Ist das Leben nicht manchmal ungerecht? Weil blablalba..."). Dann darf ich ihm Hilfestellungen nur als Befehlsform und nicht als Konjuktivfrage stellen ("Bitte wasche noch die Teller ab!" anstatt "Könntest du bitte noch die Teller abwaschen?"). Ausserdem muss ich Fragen immer so stellen, dass er sie nicht einfach nur mit "Ja" oder "Nein" beantworten kann. Sonst ist das Gespräch von ihm aus beendet. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein befruchtendes Gespräch mit meinem Mann geführt zu haben. Das ist schon ziemlich hart, aber ich habe es nun nach 8 Jahren einfach akzeptiert und ich weiss, dass er das nicht böse meint. Und dass er es nicht anders kann. Auch hier kompensiere ich meine Bedürfnis nach guten Gesprächen mit anderen Menschen, welche mir lieb sind.
Du sagst, dass dein Freund sehr stolz sei. Den gleichen Eindruck hatte ich auch bei meinem Mann und darum habe ich mich anfangs getraut, ebenfalls hart auszuteilen. Aber dann habe ich gemerkt, dass er ganz im Gegenteil sehr verunsichert ist und lieber nichts sagt, als dass er wieder in ein Fettnäpfchen tritt. Er duldet kein emotionales Gespräch, keine emotionalen Filme, weil er selbst voller Emotionen ist, die ihn verunsichern, ihn aufwühlen und an sich selbst zweifeln lassen. Emotionen sind für ihn schlichtweg einfach das Schlimmste, das es gibt. Und dann denke ich, es ist für ihn einfacher, sie einfach aus seinem Leben auszuschliessen, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was jetzt genau von ihm verlangt wird und ob er jetzt lachen oder weinen soll. Da mein Mann auch nur in der Ich-Form redet und Monologe führt - wirkt er eben auch sehr stolz. Ich finde es schön, dass dein Freund
gerne redet und dass er offen ist. Das ist in der Kommunikation ein grosser Vorteil. Du wirst ihn gut verstehen lernen und da er nicht so verschlossen ist und auch über sich selbst reden kann, würde ich ruhig mit ihm über deinen Verdacht reden. Es könnte auch eine grosse Erleichterung sein für ihn. Und du könntest von Anfang an ihn besser verstehen.
Alles Gute
Tinka