Ich möchte einmal beschreiben wie das bei mir war und wo ich nun stehe.
Ich kam mit knapp 8 Jahren wegen starken Verhaltensauffälligkeiten in ein dafür ausgerichtetes Kinderheim. Nach diversen Untersuchungen (psychologische, medizinische) und Diagnostiken stand fest: ADHS und AWVS, teilweise sozial nicht angepasst, extrem stark ausgeprägte Wahrnehmung von akustischen und visuellen Reizen, grosse Probleme mit Berührungen.
Das war in den frühen 80ern.
Mit anderen Kindern konnte ich bis auf meinen Zimmerkameraden gar nicht.... Interessant erschien mir wenn dann nur der Kontakt zu erwachsenen Menschen, also Lehrern und Erziehern.
Spätestens mit dem Einsetzen der Pubertät setzte ein ganz bestimmter Prozess bei mir ein. Vorher wusste ich nur: ich bin anders als nahezu alle anderen Menschen - genauer: nahezu alle anderen Menschen sind anders als ich - und bis zu diesem Zeitpunkt waren Menschen für mich ein "Buch mit sieben Siegeln" (Redewendung). Ich verstand sie nicht, ich verstand nicht, weshalb sie so agierten wie sie agierten, ich verstand auch nicht, weshalb ich oft entweder das Ziel ihrer Boshaftigkeiten war (heute Mobbing) oder nicht ernst genommen wurde.
Aber... Mich interessierte das Verhalten von Menschen. Ich wollte verstehen, wie und warum sie so kommunizierten wie sie es taten, verbal wie auch nonverbal.
Je mehr und länger ich Menschen und ihr Verhalten beobachtete und analysierte, umso mehr konnte ich ich Vorgehen erkennen, vorausberechnen, was als nächsten kommt aber vorallem, und das ist vermutlich der wichtigste Punkt: ich lernte ihr Verhalten nachzuahmen, sich ihnen anzupassen.
Ich war und blieb zwar ein Aussenseiter, aber ich wurde selbstsicherer im Umgang mit anderen Menschen, ich konnte sie immer besser imitieren und ihre Art zu sein nachvollziehen und vorausberechnen.
Ausserdem lernte ich, besser mit den akustischen und visuellen Reizen umzugehen.
Mit knapp 22 Jahren war ich nahezu unauffällig / "normal".
Ich ging manchmal mit einer Person, mit der ich in der Ausbildung war, in die Stadt in den Ausgang. Ich interagierte mit Menschen, tauschte mich mit ihnen aus. Nur Smalltalk war damals für mich immer noch ein Problem.
Laute Geräusche und Blitzlichter von Einsatzfahrzeugen (Polizei, Feuerwehr, Krankenwagen) waren immer noch zuviel für mich, aber sonst... Knallgeräusche erschreckten mich, mehr aber auch nicht.
Mit 35 Jahren begann etwas, was bis heute andauert. Es ist eine Mischung aus "ich werde immer feinfühliger" und "ich verlerne zusehends Kompensationsmechanismen und -strategien".
Es war und ist ein schleichender Prozess.
Intuitiv Menschen verstehen konnte ich nie. Aber ich konnte mit dem Wissensschatz der Erfahrung und Logik diese mir fehlende/nicht ausreichend vorhandene Intuition nachbilden.
Aber.... Ich begann mit 35 Jahren erst nur manchmal, mit zunehmendem Alter aber immer öfters mit meiner auf Erfahrung und Logik basierenden "Intuition" daneben zu liegen. Bis dahin konnte mich fast niemand "auf den Arm nehmen" (Redewendung).
Ebenso konnte und kann ich immer mehr zunehmend nicht mehr mit den akustischen und visuellen Reizen umgehen, sie überfordern mich immer mehr.
Auch soziale Interaktionen fallen mir immer schwerer. Ich weiss hier aber nicht, ob es an mir liegt oder dem immer stärker werdenden Unvermögen anderer Menschen, eine Diskussion mit Respekt (der anderen Person gegenüber) und Argumenten zu führen. Meinem Eindruck zufolge finde ich soziale Interaktionen immer mühsamer, nerviger, aber öfters auch als Zeitverschwendung.
Ja... Nur wusste ich bis zur Autismusverdachtsäusserung mit knapp über 40 Jahren nichts von diesem einsetztenden Prozess bzw. nahm ich diesen Prozess als solchen nicht so wahr. Ich merkte nur: es ändert sich etwas. Ich werde unruhiger, ermüde über den Tag immer eher, habe weniger Kraft.
Mehr aber auch nicht.
Kurz vor Beginn der Autismusdiagnostik bekam ich die Unterlagen aus oben genanntem Kinderheim. Von den damaligen Diagnosen ADHS und AWVS wusste ich nichts. Aber ich erinnere mich an viele Tests, einige IQ-Tests, viele Untersuchungen unter anderem auch ein EEG.
Als ich diese Unterlagen durchlas sprangen mir viele Beschreibungen entgegen, die man so dem Asperger-Syndrom zuschreiben würde. Damals jedoch begann sich Lorna Wing gerade mit der Arbeit von Hans Asperger zu beschäftigen.
Für das damalige Bild eines Autisten war ich wohl schlicht "zu normal".
Ich tausche mich seit knapp drei Jahren über das Internet mit anderen Autisten aller Altersgruppen aus.
Interessant dabei ist, dass in der Altersgruppe, die wie ich erst mit knapp über 40 Jahren ihre Diagnose erhielten, sich unsere Geschichten erschreckend oft sehr ähnlich sind.
Auffällig als Kind, gelernt sich anzupassen, ab 35-40 Jahren immer grösser werdende Probleme, Diagnostik und Diagnose "Autismus" (meist Asperger-Syndrom, manchmal atypischer Autismus).
Ich halte es für fatal formulieren zu wollen, man könne seinen Autismus "verlernen".
Man kann vielleicht(!) lernen besser damit umzugehen, Strategien zu entwickeln, um sich beispielsweise nicht fortwährend zuvielen Reizen auszusetzen.
Aber: ist man Autist, wird man es sein Leben lang sein. Egal wie gut man mit seinem Autismus umzugehen weiss und kann.
Solltest Du marco gelernt haben mit Deinem Autismus umzugehen ist das toll.
Das kenne ich so ja auch irgendwie von mir.
Daraus aber ableiten zu wollen, dass man seinen Autismus* "verlernen" könne ist gefährlich.
Gefährlich für Autisten, gefährlich für deren Angehörigen, weil sie sich so unter Umständen falsche Hoffnungen machen könnten.
Gefährlich, weil die Allgemeinheit denkt, man können Autismus verlernen, wegtherapieren, verschwinden lassen und müsse deshalb auch weniger Geld und Bemühungen in Bereiche stecken, die Autisten tangieren.
Es könnte auch ein fatales Signal sein, wenn es um das Thema echte Inklusion geht.
* Du nennst es "verlernbarer Egozentrik", aber mit direktem Bezug zu Autismus.
Interessanterweise erscheint mir keine der Autisten, mit denen ich mich seit bald drei Jahren über das Internet austausche, als Egozentriker oder "in sich gekehrter Mensch". Ganz im Gegenteil, nahezu alle, mit denen ich mich austausche erscheinen mir als introvertierte, sehr nachdenkliche und vorallem sehr sozial denkende Menschen, die für andere da sind und auch mal ihre Belange hinten anstellen. Sie ecken vielleicht zuweilen durch ihre direkte Schreibweise ohne Schnörkel und ohne Einhaltung sozialer "Spielregeln" an, sie werden deshalb manchmal missverstanden und als "unsozialer Hobel" wahrgenommen, aber mehr auch nicht.
Manche von ihnen schreiben sehr selten etwas, manche von ihnen schreiben viel.
Egozentrisch, histrionisch oder extrovertiert veranlagt, all diese Attribute könnte ich niemanden dieser Gruppe zuordnen.
Wie ist es heute bei mir?
Heute ist es so, das ein Einkauf in einem Geschäft für mich extrem ermüdend ist... All die Geräusche, Lichter, Menschen, Eindrücke und Reize Das ist zuviel für mich, es überfordert mich.
Dennoch kaufe ich ein, auch wenn ich mich danach immer öfters hinlegen muss. Ich nenne es "Training".
Ich arbeite(te) immer auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt und nicht in einer "geschützten" Umgebung. Vieles nervte mich über die ganze Zeit gesehen, aber die letzten Jahre waren diesbezüglich ganz schlimm. Auch das Verhalten von immer mehr Arbeitskollegen ist für mich zunehmend eine Herausforderung.
Aus diesem Grunde habe ich im Geschäft zum Beispiel auch nie etwas für den Kühlschrank und/oder die Mikrowelle dabei. Dinge die im Kühlschrank vor sich hin verrotten, Mikrowellengeräte, die aussehen, als wäre in ihnen Essen explodiert und dennoch wurden sie nicht gereinigt...
Als Kind hatte ich einen Dauertinnitus.
Als Erwachsener war er weg.
Seit bald vier Jahren ist er wieder mein ständiger Begleiter. Oft nehme ich ihn nicht wahr, aber in für mich stressigen Situationen wie eben einem Geschäft macht er sich stark bemerkbar und kann dann auch noch Tage später nerven.
Als Kind war ich von selektivem Mutismus betroffen. Als Erwachsener hatte ich das nicht mehr... Bis vor etwa 4 Jahren. Ich weiss nicht, wie oft ich nun in den letzten vier Jahren wieder davon betroffen war, aber ich würde schätzen zwischen 15-20 Mal.
Vor einem Jahr waren meine Frau und ich in einem Thermalbad. Es war Jagdzeit, ca. 500 Meter von uns entfernt wurde geschossen. Ich verkrampfte wegen den zwei Schussgeräuschen komplett während 30 Sekunden, war unfähig mich zu bewegen.
So etwas kannte ich als Kind bei Knallgeräuschen, als Erwachener erschreckte ich "nur" oder hatte deswegen auch ab und zu sofort eine Migräneattacke.
Mich kann man heute relativ einfach "auf den Arm nehmen", ich erkenne nicht mehr, wenn das jemand mit mir macht.
Nun ich verlerne die erlernten Fähigkeiten immer mehr.
Es ist nicht schön, es macht mir Angst. Wie weit schreitet dieser "Verfall" weiter voran?
Aber ich kann nichts dagegen machen, so sehr ich mich auch anstrenge.