Beiträge von Piero Rossi

    Bis Ende 2015 führte ich eine psychotherapeutische Praxis mit den Schwerpunkten ADHS und Autismus-Spektrum-Störung. Nur zu gut weiss ich aus meiner früheren Arbeit um die gravierenden persönlichen Auswirkungen brachliegender Potentiale von intelligenten, schwierigen und unangepassten Kindern. Ich kenne ihre innere Leere, ihre quälenden Nöte und ihre Sehnsüchte. Auch die Sorgen ihrer Eltern sind mit bestens bekannt.


    In der Schweiz sind wir in zahlreichen Bereichen der Forschung, der Medizin sowie in anderen Gebieten führend. Die Seelen und Talente vieler intelligenter Kinder mit Handicaps hingegen lassen wir verkümmern. Das darf nicht sein.


    Ich habe einen Traum: Trotz Verhaltensstörungen, Behinderungen, Funktionsschwächen und Handicaps entfalten diese Kinder ihr zwischenmenschliches, kreatives und intellektuelles Potenzial. Ihre Erfolgserlebnisse und ihr Identitätsgefühl hängen in Zukunft nicht mehr wie bis anhin alleine am labilen Faden eines schulischen und sozialen Erfolges. An ihren Stärken anknüpfend werden sie gezielt und individuell gefördert. So werden sie trotz ihrer Handicaps zu wertvollen und zufriedenen Mitgliedern in unserer Gesellschaft.


    Ich bin fest davon überzeugt, dass auch Kinder und Jugendliche mit sozialen Handicaps und anderen Problemen ein Recht darauf haben, sich zu entwickeln und stolz auf sich zu sein. Das sind wir ihnen und unserer Gesellschaft schuldig.


    Glückliche Gesichter und strahlende Augen will ich sehen. Dafür stehe ich ein mit meinem neuen Projekt: www.piero-rossi.ch

    Danke für die gute Zusammenstellung!


    Erwähnen möchte ich, dass sich diese Empfehlungen zum Nachteilsausgleich auf Massnahmen bei Prüfungen konzentrieren. Aus meiner Erfahrung bedarf es in vielen Fällen auch ausserhalb von Prüfungen zahlreicher, individuell zusammengestellter Massnahmen. Dazu einige Beispiele:


    Befreiung von obligatorischen Gruppenarbeiten; explizit freiwillige Teilnahme an Gruppendiskussionen; Notenbefreiung im mündlichen Unterricht; Bereitstellung eines eigenen Lern- und Ruhe-Pausenzimmers im Schulhaus (evt. genutzt auch als eigene Garderobe und/oder als Ersatz-Umziehraum beim Turnen); visuell klare, nicht 'überladene' und unmissverständliche Arbeits- und Aufgabenblätter; bei Kindern mit Wechsel der Schulräume: visuelle Orientierungshilfen im Schulgebäude; Sicherstellung eines sozial möglichst stressfreien Schulwegs usw.


    Vielleicht lohnt es sich, wenn wir hier versuchen, noch weitere mögliche Massnahmen für einen umfassenden, die relevanten Bereiche abdeckenden Nachteilsausgleich zusammenzutragen.


    Piero Rossi

    In den meisten Kantonen, welche den Wechsel zur integrativen Schulung vollzogen haben, hat ein Sonderschul-Antrag nur dann Chancen, wenn gut begründet und belegt werden kann, dass die mit der integrativen Schulung gegebenen Möglichkeiten (gemeint ist eine heilpädagogische Unterstützung während der Unterrichtszeit) ohne Erfolg ausgeschöpft wurden (oder von vorneherin aussichtslos sind). Wenn ein Kind mit AS den Anforderungen der Primarschule einigermassen gewachsen war, dann gehen die Schulbehörden verständlicherweise davon aus, dass auch die Beschulung in einer regulären Oberstufe zumutbar ist.


    Ein Antrag muss also sehr gut begründet werden. Relevante Argumente könnten beispielsweise das Wegfallen der Lehrkraft, welche den Knaben mit AS mit grossen persönlichem Engagement durch die Primaschule coachte, oder der unzumutbare Wechsel von einem sehr kleinen und übersichtlichen Schulhaus in ein grosses Oberstufenzentrum sein. Ein Vorhaben dieser Art bedarf in jedem Fall der Unterstützung der 6.-Klass-Lehrkraft. Wenn diese/e Lehrerin mitzieht, wird alles sehr viel einfacher. In Konfliktfällen, wenn also auch ein Gespräch mit der Schulleitung nicht fruchtete, kann der oder die SchulinspektorIn als VermittlerIn hinzugezogen werden.


    Meiner Erfahrung nach ist es schwierig, für ein AS-Kind, welches die Primarschule in regulärem Rahmen absolvierte, eine Sonderschule bewilligt zu bekommen. Wie gesagt, braucht es sehr, sehr gute Gründe. Beim Schreiben von diesbezüglichen Gutachten komme ich mir manchmal mehr vor wie ein Jurist...

    Wenn relevante Probleme vorliegen, kommt es normalerseise gar nicht erst dazu, dass ein Fahrlehrer den Fahrschüler zur Prüfung anmeldet. Ich denke, dass das erwähnte Beispiel jedem passieren kann und nicht AS-spezifisch ist.


    Zu Problemen kann es dann kommen, wenn ein Fahrschüler mit einem AS grosse Mühe hat, sich in die anderen Verkehrsteilnehmer hineinzuversetzen. Erst das Erkennen von (möglichen) Absichten anderer VerkehrsteilnehmerInnen ermöglicht es einem, vorausschauend und sicher zu fahren. Wer hingegen nicht 'sieht', was etwas der Radfahrer vorne rechts beabsichtigt, reagiert verunsichert und kann sein Verkehrsverhalten nicht mit dem potientiellen Verhalten anderer abgleichen.


    Zu einem weiteren AS-spezifischen Verkehrsproblem kann es dann kommen, wenn räumliche Orientierungsprobleme vorliegen. Wenn die kognitiven Vorgänge der Raumorientierung nicht automatisch, sondern nur unter kontrollierten Bedingungen ablaufen, kann dies einem AS-betroffenen Fahrschüler zu viel Konzentration abverlangen.


    In Zweifelsfällen haben wir unseren Patienten vorgeschlagen, sich einer verkehrspsychologischen Untersuchung zu unterziehen.

    Migros-Magazin, 25.10.2010


    Die Diagnose Autismus wird in der Schweiz heute häufiger gestellt als noch vor Jahren. Sie ist meist eine Erlösung, besonders für Erwachsene, die oft eine lange Leidensgeschichte hinter sich haben. Wenn Susan Conza im Tram zur Arbeit fährt, schützt sie ihre Ohren mit einem Kopfhörer vor dem Lärm und spielt auf ihrem iPhone «Hungry Sharks» oder «Angry Birds». Wenn im Lift jemand zu ihr sagt: «Herrliches Wetter heute», weiss sie nicht, was antworten. Und wenn sie im Geschäft dem Büronachbarn etwas mitteilen möchte, schreibt sie lieber ein Mail als schnell rüberzugehen.
    Wenn Matthias Huber als Kind seinen Fussball jonglieren wollte, plante er das in seinem Kopf minutiös voraus: Als Erstes würde er den Ball aus dem Schrank nehmen, ihn dann unter den Arm klemmen, aus der Wohnung gehen, über den Fussgängerstreifen und geradeaus zum Fussballplatz. Dort würde er nach rechts drehen, sich vors Tor stellen und jonglieren. Wenn er aber auf dem Fussballplatz ankam und das Tor rechts schon besetzt war, brach sein Plan zusammen – er musste wieder nach Hause. Es wäre ihm nicht eingefallen, nach links zu schauen, ob nicht vielleicht das andere Tor frei wäre, oder einfach in der Mitte des Platzes zu spielen.
    Weiterlesen

    Auch ich kenne zahlreiche ASS-betroffene Mr. Bean-Fans. Eigentlich auch logisch, denn Mr. Beans Komik versteckt sich nicht hinter Pointen und indirekten Andeutungen, sondern zeigt sich ganz direkt und quasi 1:1. Versteckten Humor können ASS-Betroffene entweder nicht oder nicht gut erkennen: Wenn andere lachen, schweigen sie. "Normal" lustige Filme interessieren sie meistens nicht.
    Oft geht es in humorvollen Filmen oder Theaterstücken um Missverständisse oder ein komisch wirkendes Aufeinanderprallen unterschiedlicher Erwartungen. Etwa wenn zwei Personen dasselbe sagen, aber etwas komplett anderes darunter verstehen und es dadurch zu einem riesengrossen (und für die ZuschauerInnen sehr lustigen) Chaos kommt. Wenn den ZuschauerInnen dann im Verlauf des Filmes schlagartig klar wird, wer was wieso gesagt und getan hat, geht einmal mehr ein Gelächter los. Das alles setzt aber voraus, dass die ZuschauerInnen sich in die Figuren hineindenken und spüren
    können, welche Bedürfnisse oder Motive den Äusserungen und dem Verhalten der Figuren zugrunde liegen. Genau das aber das gelingt ASS-Betroffenen oft halt nicht gut. Bei der Mr. Bean-Komik hingegen sind es ja meistens die Gesten und die Mimik, sein tollpatschiges Verhalten und das daraus entstehende Chaos, welche uns so lachen lassen. Da gibt es weder versteckte Andeutungen oder sich überschneidende und kollidierende Erwartungen. Und da Mr. Bean kaum spricht, werden auch keine mehrdeutigen Metaphern verwenden. Alles ist ohne Zweideutigkeit. Und dies ist für ASS-Betroffene natürlich sehr wohltuend.

    Zitat

    Mein Artikel in der ELPOST Nr. 41 (Sommer 2010) möchte dafür sensibilisieren, dass es zwischen ADHS und Autismus-Spektrum Überschneidungen gibt und kein Entweder-Oder.

    Auch wir sehen in der täglichen Arbeit immer wieder Überschneidungen von Problemen und Beschwerden von ADHS-Kindern mit jenen von Kindern mit Asperger-Syndrom bzw. anderen, leichteren Störungen aus dem Autismus-Spektrum. Noch deutlicher aber springen uns immer wieder grundlegende Unterschiede zwischen der ADHS- und der Autismus-Spektrum-Symptomatik ins Auge. Gestützt auf eigene Erfahrungen sehe ich in vielen Fällen sehr wohl ein "Entweder-Oder". Bedeutsam ist dies vor allem für Wahl der Therapie.
    Wir haben 2007 unsere Beobachtungen in einem Artikel zusammengefasst (wenn sich jemand dafür interessiert siehe hier).
    Auch wenn einge Kollegen und mehrere wissenschaftliche Untersuchungen ein Nebeneinander von ADHS und Autismus postulieren, bestätigen mir auch die seit 2007 gemachten Erfahrungen, dass es sich bei der ADHS und autistischen Störungen um meistes deutlich abgrenzbare Störungsbilder handelt, welche unterschiedlich behandelt werden.