Unsere neue Sensibilisierungskampagne zum Thema «Schwierigkeiten von Menschen mit Autismus bei Sozialkontakten» ist gestartet. Sie soll die Öffentlichkeit auf die sozialen Herausforderungen, mit denen Menschen mit Autismus konfrontiert sind, aufmerksam machen und so zu mehr Verständnis beitragen.
Doch welchen Herausforderungen begegnen die Betroffenen konkret? In Interviews schildern Menschen mit Autismus, welche sozialen Situationen für sie schwierig sind, wie sie damit umgehen und was ihnen hilft.
Wir danken allen Interviewpartnerinnen und -partnern herzlich, dass sie hier im Forum ihre persönlichen Erfahrungen – auf Wunsch auch anonym – mit der Community teilen.
Für das erste, schriftlich geführte Interview hat sich die Mutter einer 20-jährigen Tochter, wir nennen sie Eliane, mit hohem Unterstützungsbedarf, zur Verfügung gestellt:
Sind Sozialkontakte für Ihre Tochter mit Angst oder Stress verbunden? Falls ja, welches sind die grössten Herausforderungen für Eliane bei Sozialkontakten?
Meine Tochter unterscheidet zwischen gut bekannten Personen, die über ihre Herausforderungen bei Sozialkontakten Bescheid wissen und mit ihrem Wissen manche Schwelle abbauen können, sowie «Outsidern», die immer wieder äusserst überrascht und irritiert auf sie reagieren. Diese Reaktionen machen ihr sehr zu schaffen und verursachen grosse Anspannungen dort, wo Begegnungen mit nicht informierten Leuten unvermeidbar sind.
Sie kann sich deshalb ohne Assistenzpersonen gar nicht ausserhalb der eigenen vier Wände bewegen. Weder kann sie jemanden ansprechen, noch kann sie z.B. jemanden um Hilfe fragen. Sie würde nie einen Telefonanruf entgegennehmen (auch nicht von Familienmitgliedern), da ein solcher Austausch schnell zu schwierig wird. Ich kann mir nicht vorstellen, was meine Tochter tun würde, wenn sie im Zug alleine unterwegs wäre und ihr Billett zeigen müsste. Auf die Anweisungen einer Drittperson reagieren und vor den Augen der anderen Fahrgäste die Fahrkarte suchen wäre eine Unmöglichkeit. Würde sie auch nur ein einziges Mal in diese Situation kommen, würde sie danach wohl nicht mehr Zug fahren wollen.
Beschreiben Sie konkret eine solche Situation, die für Ihre Tochter Eliane herausfordernd war.
Über viele Monate habe ich mit meiner Tochter das Einkaufen am Kiosk im Quartier geübt. Dort arbeitet ein Bekannter von mir, der ganz neutral, aber zuvorkommend die Einkäufe mit Eliane abwickelt. In diesem Setting ist es nun tatsächlich gelungen, selbstständiges Einkaufen zu ermöglichen. Ein wichtiges Hilfsmittel ist eine Prepaid-Kreditkarte. Schnell ist bezahlt und niemand schaut beim Geld abzählen zu. Auch kleinste Beträge werden so beglichen.
In den Sommerferien hat unsere Tochter zu spät bemerkt, dass der Bekannte nicht im Kiosk war und wurde von einer fremden Verkaufsperson komplett überrascht. Die Aushilfsverkäuferin hat ihr dann das Bezahlen eines Kleinstbetrages mit der Karte verweigert. Das war für unsere Tochter ein sehr schlimmer Vorfall. Sie hat viele Monate lang immer wieder davon gesprochen. Gottseidank geht sie heute wieder zu unserem Bekannten zum Einkaufen. Ich denke, sie schaut jetzt einfach noch viel genauer, wer im Kiosk bedient.
Wie bereiten Sie Ihre Tochter auf solche Situationen vor (falls dies überhaupt möglich ist)? Haben Sie bestimmte Strategien, die Ihnen helfen?
Gewisse Situationen versuchen wir zu vermeiden, auf andere bereiten wir sie akribisch genau vor und begleiten sie dann auch. In manchen Fällen müssen wir nach Schwierigkeiten einfach wieder bei null anfangen. Es ist ein laufender Prozess, den wir heute akzeptiert haben. Wir fokussieren uns darauf, unserer Tochter gelungene Sozialkontakte zu ermöglichen. Das passiert sehr oft in unserem nächsten Umfeld, wo wir heute grosses Wohlwollen spüren.
Wie wirkt sich bei Eliane Angst und Stress aus?
Unsere Tochter wird oft aggressiv und verbal ausfällig. Das bedeutet «Alarmstufe rot» für uns. Sie braucht dann dringend Rückzug und Ruhe. Erst viel später – nach Stunden oder Tagen – können wir auf Erlebtes eingehen und versuchen, Fragen zu klären. Eliane kann uns meist nicht erzählen, was sie genau erlebt hat.
Was hilft Ihrer Tochter, um nach einem stressbeladenen Erlebnis wieder zur Ruhe zu kommen?
Eliane braucht oft Tage, um nach einem schwierigen Vorfall wieder zur Ruhe zu kommen. Dabei helfen ihr ihr eigenes Zimmer, die Beschäftigung mit Spezialinteressen und – sobald sich die Aufregung gelegt hat – auch das Gespräch mit dem näheren Umfeld. Auch wir Eltern versuchen, möglichst viele offene Punkte zu klären, damit bei ihr nicht zu viele «Knöpfe» zurückbleiben.
Einerseits möchten wir unsere Tochter motivieren, trotz negativen Erfahrungen Sachen nochmals zu versuchen, andererseits wollen wir Eliane aber auch vor zu vielen schwierigen Momenten und Druck schützen.
Um wieder zur Ruhe zu kommen, hilft unserer Tochter auch Stimming, also selbststimulierendes Verhalten (motorische Handlungen wie Händeflattern, Springen oder Hin- und Herschaukeln, aber auch Lautäusserungen). Bei unserer Tochter ist das oft sehr geräuschvoll. Wir haben als Familie gelernt, damit umzugehen, weil wir wissen, wie wichtig dies für sie ist, um Druck abzubauen.
Und zum Schluss: Was wünschen Sie sich von anderen Personen? Wie kann Ihr Gegenüber Eliane am besten unterstützen?
Von anderen Personen wünsche ich mir Akzeptanz, Offenheit und Geduld. Unsere Familie ist immer froh, wenn man uns ganz direkt Fragen stellt. Sehr gerne informieren wir über die Bedürfnisse unserer Tochter. Wir durften die schöne Erfahrung machen, dass viele Menschen die Begegnungen mit ihr als grosse Bereicherung empfinden. Unsere Tochter unterstützt man am besten, wenn sie, ohne dass sie Bedingungen erfüllen muss, einfach teilnehmen darf. Sie mag den gelungenen Umgang mit ihren Mitmenschen nämlich ganz ausserordentlich!