Genetische Aspekte bei Autismus

  • Ich möchte im folgenden einen Beitrag schreiben zum aktuellen Wissensstand über die Bedeutung der Genetik bei Autismus.


    Hans Asperger
    Hans Asperger war ein Wiener Kinderarzt, welcher vor bald 70 Jahren in sehr pionierhafter Weise erstmals das Phänomen Autismus beschrieb. Bereits für ihn war klar, dass es sich um eine vererbbare Eigenschaft handelt. Alle seine Vorhersagen in diesem Zusammenhang haben sich gemäss aktueller Forschung als richtig erwiesen: 1) die Vererbung läuft nicht einfach über ein bestimmtes Gen, sondern ist sehr komplex auf mehrere Gene verteilt, 2) das männliche Geschlecht ist wesentlich häufiger betroffen als das weibliche, 3) trotz ähnlicher Erbanlangen kann die Betroffenheit sehr verschieden sein: Geschwister und Eltern von Kindern mit Autismus sind manchmal auch in milder Form betroffen bzw. können Charakterzüge aufweisen, die dem Autismus ähnlich sind.


    Aktuelle Forschung
    In einem englischsprachigen Fachbuch, das die aktuelle Forschung zusammenfasst, werden insgesamt 17 charakteristische Gene aufgezählt, welche in Zusammenhang mit Autismus identifiziert wurden. Diese Gene sind auf 10 verschiedene Chromosomen verteilt, 2 davon auf dem X-Chromosom. Das sind konkrete Forschungsergebnisse und nicht einfach Spekulation. Völlig unklar ist allerdings nach wie vor, welche Rolle diese Gene im Einzelnen spielen und welche Kombination von Genen vorhanden sein muss, damit Autismus als Störungsbild auftritt. Als zusätzlicher Faktor kommt noch die sogenannte Epigenetik hinzu. Vereinfacht gesagt bedeutet Epigenetik, dass selbst bei identischen Erbanlagen unterschiedliche Gen-Aktivitäten resultieren können. Die Aktivität eines Gens kann "eingeschaltet" oder "ausgeschaltet" werden, und diese Vorgänge sind von Umwelteinflüssen abhängig! Lange hielt man dies für unmöglich. Es würde aber gut zur Tatsache passen, dass Autismus zwar vorwiegend (90%), aber nicht ausschliesslich durch Vererbung erklärt werden kann. Es scheint dabei so zu sein, dass beim frühkindlichen Autismus Umwelteinflüsse eine grössere Rolle spielen als beim Asperger-Syndrom.


    "Warum ist Autismus im evolutionären Prozess nicht verschwunden?"
    Diese Frage wurde von einem weiteren Pionier auf dem Gebiet des Autismus, Michael Rutter, am Europäischen Autismuskongress (Catania, 2010) rhetorisch gestellt. Wenn man nämlich dieser Frage konsequent nachgeht, kommt man zum Schluss, dass es sich beim Autismus um ein Phänomen handelt, das nicht nur mit Defiziten/Nachteilen verbunden sein kann, im Gegenteil. Detail-Orientierung, Genauigkeit und Hartnäckigkeit, um einige Beispiele zu nennen, sind in bestimmten Berufen/Funktionen ein Vorteil, und vermutlich war das eben schon in der Zeit der Jäger und Sammler so, in jener Epoche von mehreren hunderttausend Jahren Dauer also, wo sich das Erbgut des modernen Menschen (Homo sapiens) herausbildete. Das heisst, dass Menschen mit autistischen Eigenschaften in der Gesellschaft immer schon auch eine nützliche Rolle gespielt haben müssen, sonst wäre diese Eigenschaft im Laufe der Evolution verschwunden.
    Dazu würden Forschungsergebnisse aus einem ganz anderen Bereich gut passen: In der Biologie beschäftigten sich Evolutionsbiologen bisher überwiegend mit einem abstrakten Durchschnittstier. Nun wurde aber gemäss einem neuen Modell erkannt, dass die Überlebenschancen einer Population steigen, wenn sie über unterschiedliche Tierpersönlichkeiten verfügt. Wenn die Individuen in ihren Verhaltensmerkmalen variieren, kann sich die Population als Ganzes schneller auf neue Umweltbedingungen einstellen. Innert weniger Generationen ist die Anpassung an einen neuen Lebensraum so möglich. Im Extremfall entscheidet diese Variabilität über das Überleben oder Aussterben einer Population. (Quelle: Tiere mit Charakter, NZZ vom 2.11.2011) Es ist sehr plausibel, dass das auch bei menschlichen Gemeinschaften schon immer so war.

  • schön, dass sie sich zum Thema Autismus erklären.....


    ....gerne möchte ich ein paar Worte zu ihren Ausführungen loswerden...in der Hoffnung, dass sie mir nicht böse sind....




    ...mit Verlaub, ihre Ausführungen zur Vita von Hans Asperger sind uns allen wohlbekannt. Die Theorie, dass sich da etwas nicht über ein einzelnes Gen sondern über eine Verknüpfung mehrer Gene entwickelt, ist für alle leicht im Net nachzulesen, abgesehen davon, dass der medizinische Laie diese Zusammenhänge nicht einordnen kann und das Ergebnis überdies den direkt Betroffenen ziemlich egal sein dürfte.


    Sie haben übrigens vergessen, Dr. Leo Kanner zu erwähnen, dessen Theorien haben selbstverständlich auch ihren Platz in der Bewertung von (frühkindlichem) Autismus....warum wird "Autismus" in letzter Zeit eigentlich nur noch als "Asperger" diskutiert???


    Mein Sohn ist geistig behinderter (Kanner)-Autist....aber immer weniger wird das Kannersche Syndrom in die Diskussion einbezogen.


    Dass überwiegend Knaben/Männer betroffen sind, ist eine Binsenweisheit.


    Überrascht hat mich ihre Aussage, dass z.B. Eltern bzw. deren Verwandte in "milder Form" betroffen sein können....in der Tat habe ich bei Verwandten (väterlicherseits) eine "sehr milde" Form von autistischen Zügen wahrgenommen, alles liebenswerte Menschen, die einen Beruf (Handwerk) ausübten ohne dass sie in den Verdacht einer Verhaltensstörung gerieten. Ihre Wesenszüge waren Gutmütigkeit, Fleiss und Pünktlichkeit. Sie waren allerdings alle eher etwas introvertiert und "geistig einfach strukturiert"...in ihren Berufen aber anerkannte Fachleute.....und sehr sozial eingestellt!


    Sehr geehrter Herr Dr. Girsberger
    so ein richtiger "Knaller" war ihr Beitrag für mich nicht, aber es ist ein Lichtblick, wenn sich wissenschaftlich gebildete Menschen zur Problematik von Menschen mit einem Handicap zu erklären versuchen.....schreiben sie bitte weiter....(vlt. könnten sie in einem nächsten Beitrag auf die Unterschiede Asperger/Kanner eingehen?)


    Liebe Grüsse

  • Zuerst einmal vielen Dank für die Mitteilung über die Erkenntnisse der Genetikforschung. Diese Erkenntnisse decken sich mit meiner Erfahrung bezüglich Angehöriger autistischer Personen (ich kenne mittlerweile über 60 Autisten, vom Asperger- bis Kannerautisten, persönlich). Gerne hätte ich allerdings die Quellen zu den Studien erhalten, da es sicher interessant ist, dieselbe im Original nachzulesen. Was sind schon wissenschaftliche Aussagen ohne die dazugehörigen Quellen!


    Noch eine Anmerkung und auch persönliche Erfahrung:


    Meine Überschrift ist nicht zufällig so gewählt! Denn der Ausdruck "milder" Autismus mag zwar in einigen Fällen durchaus angebracht sein, wird aber zu häufig falsch angewandt. Der Begriff "mild" oder seine Synonyme "leicht" oder "gering" suggerieren eine weniger starke Ausprägung von Autismus.


    Eine Frage in Beispielform hierzu: Ist ein Linkshänder, der mühsam und unter Druck gelernt hat, rechts zu schreiben, der also dadurch weniger auffälig ist, ein "milder" Linkshänder? Oder ist er nicht vielmehr durch seine zwangsweise Kompensation seiner Besonderheit sogar stärker psychisch belastet, als ein "starker" Linkshänder, der immer noch links schreibt und daher auffällig ist?


    Genauso ergeht es doch vielen Autisten, die aufgrund einer höheren kognitiven Leistungsfähigkeit gelernt haben weniger auffällig zu sein! Sie sind nicht "milde" Autisten, sondern mit großem Druck und Anstrengung "angepasste" Autisten!


    Auch dazu ein Beispiel:
    Wenn ein Auto einen Defekt in der Radaufhängung hat, so dass es stark nach links zieht, kann man nur dann "unauffällig" fahren, wenn man ständig am Lenkrad nach rechts zieht. Je mehr der Fahrer gelernt hat, diese Schwäche seines Fahrzeugs zu kompensieren, desto unauffälliger wird er im Straßenverkehr agieren können. Aber wehe, wenn ihm die Kraft ausgeht oder er auch nur eine Sekunde lang die Konzerntration auf den Defekt seines Autos außer Acht lässt, dann kommt es zu einem größeren Problem, wo dann nur noch eine gute Reaktion seiner Mitmenschen (andere Autofahrer) eine Katastrophe verhindern können. Bei all dem ist die Einschränkung ständig vorhanden und allein aus dem Fahrverhalten heraus ist NICHT feststellbar, ob der Defekt an der Lenkung des Fahrzeuges "milde" oder "stark ausgeprägt" ist. Dass ein Fahrer mit Erfahrung und dem entsprechenden Verständnis über die Funktionsweise einer Lenkung hier im Vorteil ist, liegt klar auf der Hand, aber ein guter Fahrer wird den wahren Defekt seines Fahrzeuges dadurch noch mehr verschleiern und bekommt dann die "milde" Diagnose!


    Mit einem sonnigen Gruß aus Oberbayern
    Werner

  • Zitat von mantasto
    warum wird "Autismus" in letzter Zeit eigentlich nur noch als "Asperger" diskutiert?


    1. Das Asperger-Syndrom ist eine umstrittene Diagnose,
    sowohl in möglicher Form wie auch in möglicher Auswirkung.


    2. Das Asperger-Syndrom ist in weiten Kreisen unbekannt,
    nicht nur in der Gesellschaft sondern auch in der Psychiatrie.


    Niemand zweifelt eine Diagnose "Kanner-Autismus mit geistiger Behinderung" an,
    daher wird sie auch seltener diskutiert, weil sie als faktisch wahrgenommen wird.




    Zitat von Joker
    "Milder" Autismus ?


    Hier entstehen oft Missverständnisse zwischen der Interpretation von Betroffenen
    und derjenigen von Fachleuten. Fachleute zweifeln auch bei einer "milden" Form
    von Autismus nicht die möglichen Auswirkungen von pers. empfundenem Leid an,
    sondern die Fähigkeit sich im Alltag zurechtzufinden wird klassifiziert in Angaben.


    Beispiel Temple Grandin: Niemand zweifelt an, dass sie von Autismus betroffen ist.
    Sie hat aber durch ihre Intelligenz und der Förderung durch Familie (insb. Mutter)
    und Schule (insb. ihr Lehrer und Freund) den Autismus soweit "mildern" können,
    dass sie, wenn auch nicht unauffällig, dennoch selbständig lebensfähig wurde. Ist sie
    deswegen "weniger" vom Autismus betroffen? Eine irrelevante Frage für Fachleute.



    Zitat von Dr. Girsberger
    "Warum ist Autismus im evolutionären Prozess nicht verschwunden?"

    "Im Westen nichts Neues"
    Der Mensch ist das grausamste Lebewesen, das die Evolution hervorbrachte.
    Warum hat die Evolution diese Richtung eingeschlagen?
    Eine rethorische Frage, auf die ich keine Antwort erwarte.




    Gruss Nic


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  • Zitat von mantasto
    (vlt. könnten sie in einem nächsten Beitrag auf
    die Unterschiede Asperger/Kanner eingehen?)



    Da niemand antwortet, versuche ich es,
    da es m.E. eine Antwort und Diskussion allemal wert ist.




    Die Frage müsste auf drei Ebenen diskutiert werden:


    1. Was ist Kanner-Autismus? Welche Menschen fallen unter diese Diagnose?


    2. Was ist Asperger-Autimus? Welche Menschen fallen unter diese Diagnose?


    3. Wo liegen die Gemeinsamkeiten? Wo liegen die Unterschiede?




    Die Fragen sind zur Zeit nicht objektiv diskutierbar, da sich die Fachleute
    nicht einig sind in der Beantwortung, also lediglich subjektive Meinungen
    und Stellungnahmen diskutiert werden können.



    Die Aussage von Dr. Gutstein (USA) hat mir persönlich weitergeholfen.
    Für mich eine gute Grundlage für eine (möglichst neutrale) Diskussion.
    "Zentrale Defizite des Autismus" - Autismus-Spektrum




    Gruss Nic


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