• Als Kinder- und Jugendpsychiater in eigener Praxis mache ich regelmässig Abklärungen mit den Fragestellungen Autismus-Spektrum, Asperger-Syndrom und ADHS.
    Ich benutze dabei unter anderem den HAWIK-III als testpsychologisches Instrument. Nach mehreren Jahren habe ich insgesamt 89 Kinder, die eine der obengenannten Diagnosen aufwiesen, in eine Studie einbezogen. Dabei bin ich zum Schluss gekommen, dass insbesondere Kinder mit Asperger-Syndrom im HAWIK-III ein typisches Muster aufweisen und dass deshalb dieser Test einen nützlichen Beitrag zur Abklärung leistet.
    Die Studie wurde unter dem Titel "Der HAWIK-III - ein nützliches Instrument bei der Abklärung des Asperger-Syndroms" in der Nummer 4-2009 der Fachzeitschrift "Forum der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie" veröffentlicht.

  • Der Artikel von Thomas Girsberger findet Interesse und Zustimmung. Trotzdem sind ein paar kritische Gedanken angebracht. Dabei stütze ich mich neben meinen klinischen Erfahrungen auf eine gerade publizierte Studie von Noterdaeme, Wriedt und Höhne, Asperger’s syndrom and high functioning autism: language, motor and cognitive profiles. European Journal of Child and Adolescent Psychiatry 2010, 19: 475-481.


    Dabei möchte ich vorausschicken, dass die Mehrzahl der internationalen Autismus - Experten eine Abgrenzung von Asperger Syndrom und high functioning Autismus für nicht sinnvoll hält und die Diagnose „Asperger Syndrom“ bei der Revision des Diagnose-Systems DSM, also im DSM – V, das zur Zeit vorbereitet wird, möglicherweise weggelassen wird.In verschiedenen Studien, auch bei Thomas Girsberger, wird darauf hingewiesen, dass Kinder mit AS im HAWIK einen höheren Verbal-IQ haben als Kinder mit HFA. Dies ist nicht weiter überraschend, weil ja eine gute Sprachentwicklung zu den Definitionskriterien des AS gehört. Die Testresultate bestätigen also die Definitionskriterien.Innerhalb der sprachlichen Aufgaben findet sich in der Studie von Noterdaeme nur eine Schwäche beim Allgemeinen Verständnis und zwar gleichermassen bei AS und HFA. Auch dies überrascht nicht sehr, weil dieser Untertest dem am nächsten kommt, was man als „gesunden Menschenverstand“ bezeichnen könnte und was bei vielen Kindern im autistischen Spektrum beeinträchtigt ist.


    Im Handlungsteil war der Mosaiktest in beiden Gruppen der beste Untertest, bei Kindern mit AS allerdings mit grösserem Abstand als bei HFA.Die Mehrheit der mir bekannten Fachleute würden sich klar gegen die Vorstellung aussprechen, dass IQ - Profile so Asperger – spezifisch sind, dass sie für eine individuelle Diagnose hilfreich sein können. Es gibt zwar gewisse Gruppenunterschiede, aber auch viele Überlappungen. Verschiedene von Girsberger beschriebene Spezialbefunde, z.B. zum Rechnerischen Denken, finden sch in anderen Studien nicht.


    Wenn man also den hohen sprachlichen IQ als besonderen Befund für das AS weglässt, weil ja gerade die sprachliche Stärke dazu führt, das diese Kinder der AS Gruppe zugeteilt werden, bleibt nur eine Stärke im Mosaiktest.Thomas Girsberger hält am Anfang des Artikels fest, dass „die Asperger Diagnose eine beschreibende klinische Diagnose ist, die stark von der Erfahrung des Untersuchers abhängt“. Er scheint das zu bedauern und betont, dass „der HAWIK keine Autismus-spezifische Erfahrung voraussetzt und seine Resultate zuverlässiger objektivierbar sind als jene einer rein klinisch-beobachtenden Beschreibung“. Er gibt dem HAWIK damit eine diagnostische Funktion.


    Dieser Aussage möchte ich klar widersprechen. In der gesamten Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es keinen einzigen Test, der eine gute klinische Diagnose ersetzen kann. Dies gilt auch für Autismus-Spektrum-Störungen.
    Es gibt verschiedene gut konzipierte Untersuchungsmethoden, die helfen, die klinische Beobachtung zu objektivieren und vergleichbar zu machen, v.a. der ADOS (Autism Diagnostic Observation Scale) und für sehr junge Kinder der ADEC (Autism Detection in Early Childhood). Ebenso gibt es verschiedene Möglichkeiten, die für die Diagnose extrem wichtigen Berichte der Eltern oder der Betreuer zuverlässig und umfassend festzuhalten, v.a. im ADI (Autism Diagnostic Interview).


    Die Vorstellung, diese differenzierte Arbeit, bei der Erfahrung natürlich eine Rolle spielt, durch die Interpretation eines Testprofils ersetzen zu können, halte ich für äusserst problematisch.


    Ronnie Gundelfinger
    Leitender Arzt der Autismus Sprechstunde

    Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie Universität Zürich

  • Replik zu den kritischen Anmerkungen von Ronnie Gundelfinger zu meinem Artikel:
    Ein wichtiges Motiv für die Publikation meiner Studie war die Tatsache, dass viele Kinder aus dem Autismus-Spektrum und insbesondere Kinder mit Asperger-Syndrom immer noch viel zu spät diagnostiziert werden. Und dies hat unter anderem damit zu tun, dass von vielen Untersuchern die beiden Diagnose-Instrumente ADOS und ADI-R als "Gold-Standard" für die Autismus-Diagnostik betrachtet werden. Dass dies für den frühkindlichen Autismus richtig ist, wird von niemandem bestritten. Anders sieht dies für das Asperger-Syndrom aus. Ich zitiere Remschmidt aus seinem Standardwerk aus dem Jahre 2006: "Beide Verfahren ADI-R und ADOS wurden nicht explizit konzipiert und validiert, um das Asperger-Syndrom zu erfassen, sondern sind in erster Linie für die Diagnostik des frühkindlichen Autismus gedacht. (...) Es ist dringend notwendig, sowohl für den ADI-R als auch für das ADOS spezifische Module zu entwickeln, die auf die charakteristische Symptomatik des Asperger-Syndroms abzielen. Die diagnostischen Kriterien (ICD-10 und DSM-IV) müssen spezifiziert werden und ein für das Asperger-Syndrom spezifischer Algorithmus für die diagnostischen Instrumente entwickelt werden." Ähnliche Aussagen könnte ich von T. Attwood oder S. Baron-Cohen anfügen, die in die gleiche Richtung zielen.
    Solange es solche Asperger-spezifischen Module nicht gibt, werden etliche Kinder aus dem Autismus-Spektrum mit ADOS und ADI-R nicht erfasst.
    Dennoch möchte ich folgendes betonen: auch ich arbeite bei Vorliegen eines Autismus-Verdachts mit ADOS und ADI-R. Dass ich diese spezifischen Diagnose-Instrumente durch den HAWIK ersetzen möchte, ist ein grosses Missverständnis. Ich betrachte den HAWIK hingegen als eine wertvolle Ergänzung, gerade dort, wo die herkömmlichen Instrumente oft zu falsch-negativen Resultaten führen (siehe oben). Bereits Hans Asperger hat in seiner bahnbrechenden Arbeit darauf hingewiesen, dass „die Intelligenzprüfung nicht nur über die intellektuelle Begabung, sondern auch über wesentliche Persönlichkeits-Funktionen“ Aufschluss zu geben vermag.
    Als wichtigstes Teil-Resultat meiner Studie betrachte ich im Übrigen die Ergebnisse bei den Untertests "Mosaiktest" und "Figuren-legen". Bei den Kindern mit Asperger-Syndrom resultierte hier ein signifikanter Unterschied, was aus folgendem Grund sehr aufschlussreich ist: Für den Mosaiktest ist das Vorliegen einer schwachen zentralen Kohärenz ein Vorteil, beim Figuren-legen hingegen ein Nachteil. Das würde genau dazu passen, dass diese Kinder im Mosaik-Test gut und im Figuren-legen vergleichsweise schlecht abgeschnitten haben. Eine schwache zentrale Kohärenz wird heute von den meisten Autismus-Forschern als wichtiges neuropsychologisches Korrelat für autistische Wahrnehmung betrachtet.
    Zum Schluss möchte ich erwähnen, dass ich es sehr schätze, dass Ronnie Gundelfinger sich die Zeit und Mühe genommen hat, meinen Artikel zu lesen und zu kommentieren. Was mich ein bisschen stört, ist der Grundtenor, der sehr negativ ist und an meiner Arbeit keinen guten Faden lässt. Dass meine Studie so schlecht nicht sein kann, zeigt wohl die Tatsache, dass meine Einsendung an den europäischen Autismus-Kongress, der im Oktober 2010 in Catania/Sizilien stattfindet, erfolgreich war und ich so die Gelegenheit haben werde, meine Gedanken dort einem internationalen Fachpublikum vorzustellen.

  • Thomas Girsberger argumentiert in seiner Replik auf meine kritischen Anmerkungen unter anderem mit Autismus Koryphäen wie Remschmitdt, Attwood oder Baron-Cohen. Diese Autoren haben Kritik an der Verwendung des ADI-R und des ADOS bei high-functioning Autismus oder Asperger Syndrom geäussert. Tatsächlich ist schon lange bekannt, dass die Reliabilität (Zuverlässigkeit) der ADOS Module 3 und 4, die man für Kinder und Jugendliche mit guten sprachlichen Fähigkeiten braucht, tiefer ist als bei den Modulen 1 und 2. Dadurch wird aber von diesen Fachleuten die Verwendung dieser Instrumente nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern es wird der Wunsch nach einer Verbesserung geäussert. Ich habe bei keinem dieser Autismus Spezilaisten je gelesen, dass sie die Schwächen der Verfahren durch die Interpretation eines IQ Tests beheben wollen.


    Autismus Spektrum Störungen sind definiert durch Störungen der Interaktion, der Kommunkation und des Spielverhaltens (Interessen). Jede Diagnostik muss sich an diesen Symptomen orientieren. Zusätzliche Symptome wie sensorische Auffälligkeiten oder kognitive Besonderheiten (wie die zentrale Kohärenz) sollten nicht zu entscheidenden Elementen der Diagnose werden.


    Thomas Girsberger fühlt sich durch meine Kritik ungerecht beurteilt. Ich hab mich im Wesentlichen gar nicht zu seiner Studie geäussert, sondern die Schlussfolgerungen, die er aus seinen Resultaten zieht, in Frage gestellt.


    Wenn korrekt durchgeführte ADI-R ( man könnte statt dessen auch das Asperger Interview von Gillberg verwenden) und ADOS negativ sind, besteht nach meiner Erfahrung berechtigter Zweifel an einer Autismus-Diagnose. Als nächster Schritt käme vor allem ein Schulbesuch in Frage, der bei Kinder und Jugendlichen, die sich in der Untersuchungssituation gut zurechtfinden, neue Hinweise geben kann.


    Ein Befund zur zentralen Kohärenz, sei es mit dem HAWIK oder einem speziell für diese Fragestellung entwickelten Verfahren, kann für mich den Zweifel nicht aus der Welt schaffen.


    Die Resultate von Thomas Girsberger zeigen interessante Aspekte der Informationswahrnehmung und -verarbeitung der von ihm untersuchten Kinder. Es wird aus seinen Angaben nicht ganzklar, wie er zur diagnostischen Einteilung der Kinder in die jeweilige Gruppe gekommen ist (eigene Beobachtung, Angabe von Eltern, Tests ...?). Trotzdem bin ich der Überzeugung, das diese Befunde bei der Autismus-Diagnose keine grosse Rolle spielen dürfen.