ASS und Alter

  • Es ist bekannt, dass ASS eher Einzelgänger sind und sich in der Regel wenig um soziale Kontakte kümmern. Sie sind mit sich und ihren Strukturen in gewissen Lebensabschnitten beschäftigt, was absolut in Ordnung ist. Bei mir war das nicht anders, will heissen ich dachte nie über das Altwerden nach.


    Mein Fokus richtete sich hauptsächlich nach Aussen, sprich meine Interessen nahmen meine geistigen Ambitionen voll in Anspruch. Doch nun, ich stehe als IV-Rentner mitten in den Fünfzigern, schleicht sich eine Irritation in meine Gedanken: Das Alter! Ich stehe nicht mehr im Berufsleben, mein Geist hat keine Aufgaben mehr im Aussen und so richten sich die Gedanken je länger je mehr auf mich selbst. Was da zutage tritt ist erschreckend: ich bin nämlich allein. Die sogenannten Spezialinteressen büssen ihre Wichtigkeit ein, verlieren sich im Nebel der Vergangenheit, was erstens erschreckend und zweitens traurig ist. Warum geschieht so etwas? Im Alter verlieren ungewollt, wie ich feststelle, die liebgewordenen Prioritäten an Wert. Der alternde Mensch kehrt seinen Fokus offenbar - so habe ich gelesen - ermehrt in sich hinein. Warum? Dieses eine Wort stellt sich immer häufiger in den Vordergrund. Warum kann ich beispielsweise nicht mehr so weit wandern? Warum verliere ich das Interesse an dem oder jenem, was mir einst wichtig schien? Warum? Ad infinitum absurdum.


    Viele, die älter werden und nicht mehr im Berufsleben stehen, widmen sich beispielsweise karitativen Aufgaben, übernehmen Ehrenämter oder unternehmen Weltreisen. Doch wie sieht das für mich als älter werdender ASS aus? Ich kann nicht mit Menschen umgehen, also scheiden die obgenannten Optionen schon mal aus. Weltreisen? Nein, dafür fehlen mir die Mittel sowie auch der Mut. So kehre ich immer tiefer in mein Inneres ein, kapsle mich noch mehr von der Aussenwelt ab, werde zu einem Reisenden zu einem Kontinent, den ausser mir niemand je kennenlernen wird und das kann zu Angst führen. Fragen, wie zum Beispiel ob ich jetzt komplett anfange zu spinnen oder kauzig werde, sind nicht von der Hand zu weisen. Wie wird man mit ASS denn alt? Wie kann ich diesem Lebensabschnitt, den manche als den goldenen bezeichnen, eine Lebensqualität abgewinnen, der für mich als Denker Sinn ergibt?


    Weiter soll mit dem Alter auch Weisheit entstehen. Wunderbar, so gesehen bin ich also weise. Ja, und was fange ich damit an? Was, wenn ich meine Weisheit niemandem mitteilen oder daran teilhaben lassen kann? Ein Buch darüber schreiben? Wer will so was verlegen, bzw. lesen? Wieder dieses wunderbar mysteriöse Wort: Warum?


    Ein spannendes Thema, doch wer denkt darüber nach? Ich auf jeden Fall und vielleicht andere auch, denn alt werden wir alle, egal ob ASS oder NT.


    Regenbogen

  • Eines kann ich in dieser Beziehung ganz klar sagen, hochfunktionale autistische Menschen werden auch im hohen Alter kaum an einer Demenz erkranken. Dies liegt darin begründet, dass autistische Gehirne lebenslänglich in einer Aufbauphase begriffen sind das heisst sehr plastisch bleiben. Eine Stagnation oder gar Reduktion ist unwahrscheinlich in diesem Kontext.
    Diese Meinung vertritt der weltbekannte australische Autismusforscher und Psychologe Dr. Wenn
    Lawson.

  • Viele, die älter werden und nicht mehr im Berufsleben stehen, widmen sich beispielsweise karitativen Aufgaben, übernehmen Ehrenämter oder unternehmen Weltreisen. Doch wie sieht das für mich als älter werdender ASS aus? Ich kann nicht mit Menschen umgehen, also scheiden die obgenannten Optionen schon mal aus. Weltreisen? Nein, dafür fehlen mir die Mittel sowie auch der Mut.


    Ich möchte gerne zu den fettgedruckten Punkten etwas sagen, und zwar im Sinne einer Ermutigung, weil alles viel einfacher ist als du denkst.


    Zunächst also zu karitativen Aufgaben/Ehrenämtern. Da gibt es die Möglichkeit, sich beim kantonalen Roten Kreuz zu melden (falls du grenznah wohnst, auch beim Nachbarkanton), sei es für den Fahrdienst, sei es für den Besuchsdienst. Fahrdienst bedeutet: ältere oder behinderte Menschen benötigen eine Fahrt zum Arzt, in ein Spital, zum Coiffeur oder zum Einkaufen; das Rote Kreuz vermittelt solche Fahrten. Der Fahrer bekommt vom Beförderten einen kleinen Betrag (ich glaube 5.- Franken plus die Kilometerspesen).


    Beim Besuchsdienst geht es darum, dass jemand in regelmässigen Intervallen besucht werden möchte, normalerweise einmal pro Woche, für maximal 1-2 Stunden. Hier bezahlt der Besuchte 10 Franken pro Besuch, und das Rote Kreuz ersetzt die Anfahrtspesen direkt (können auch ÖV-Spesen sein, wenn kein Auto vorhanden ist). Beim Besuchsdienst ist es so, dass sich sowas wie eine vertraute Beziehung ergeben kann, weil man als Besucher die Nöte und Sorgen des/der Besuchten mit der Zeit kennen lernt: darum wird es sich ja oft drehen, nämlich die Einsamkeit etwas zu lindern. Als selbst der Einsamkeit Ausgesetzter, kannst du das ja gut nachvollziehen und auch entsprechende Empathie entwickeln, bzw Strategien anwenden, um während dieser 1-2 Stunden ein angenehmes Gegenüber zu sein.


    Es gibt auch andere Organisationen, die Ähnliches anbieten, zu finden auf https://www.benevol-jobs.ch/ ; im Speziellen für Fribourg auf http://www.benevolat-fr.ch/freiwilligenboerse?L=1


    Mir ist klar, dass du diese Angebotsplattformen vermutlich schon kennst; ich will nur sagen, dass es darunter auch Möglichkeiten gibt, die dir und deinen Fähigkeiten entsprechen, und die dich aus deiner eigenen Isolation herausholen. Es gibt darunter auch Jobs, die fast keine tiefer greifenden Kontaktfähigkeiten voraussetzen, z. B als Fahrer für einen Caritas-Laden, wobei man regelmässig bestimmte Nahrungsmittel wo abholt und in den Laden bringt.


    Im nächsten Post schreibe ich gerne noch etwas zum Thema Weltreise.

  • Weltreise ist so ein Wort, das in etwa dem Sprachgebrauch ab der Mitte des letzten
    Jahrhunderts entliehen ist. Da hatte man die Idee, dass man einmal im Leben so eine Reise unternimmt,
    die dann weiss wieviel Planung und Kosten verursachte. Weltreise suggeriert ebenfalls, dass man ganz
    um die Welt reist, also von der andern Weltseite wieder nach Hause zurückkehrt.


    Heutzutage ist das völlig anders. Da buchst du einen Flug in ein Land, wo es dich mal hinzieht, und
    erkundest dieses und die umliegenden Länder, je nach Lust und Laune. Vor dem Abflug machst du
    dich im Internet schlau, was du da alles sehen könntest, solltest, oder was du am besten vermeidest
    usw.


    Da du von Mut und der Kostenfrage sprichst, schlage ich vor, du beschränkst dich erstmal auf
    Länder bzw Weltteile, die für jeden erschwinglich und vergleichsweise sicher sind: nämlich Asien, im
    Speziellen Süd- und Südostasien. Zu Südasien gehören Indien, Nepal und Sri Lanka, zu Südostasien
    Thailand und die umliegenden Länder: Malaysia, Laos, Kambodscha, Burma und Vietnam.


    Mir geht es hier ja darum, an praktischen Beispielen zu zeigen, dass diese Reiseziele sowohl sicher, wie
    auch sehr kostengünstig sein können. Es kommt einfach auf deinen Informationsstand an und auf die
    Wahl des Standards, den du dir zu leisten wünschst. Ich kann dir sagen, dass du problemlos mit jedem
    vernünftigen Budget eine sinnvolle und befriedigende Reise unternehmen kannst. In Thailand z.B
    bekommst du für 6-10 Franken pro Tag (je nach Ort unterschiedlich) schönere Zimmer als in manchen
    Schweizer Hotels für das X-fache. Einen Flug nach Thailand bekommst du ab ca 500 Franken retour
    (momentan gerade mit Cathay Pacific, der weltbesten und sichersten Airline nach heutigen
    Zeitungsberichten. Details hier.).


    Ein gutes sauberes, frisch vor deinen Augen zubereitetes Essen bekommst du ab 1
    Franken pro Mahlzeit, auch oder gerade auch in Bangkok. Was willst du mehr? Du kannst problemlos
    leben für 15 Franken pro Tag, mal 30 macht 450-500 Franken pro Monat. (Wenn du willst, kannst du's
    auch noch billiger haben, davon später mehr...)


    Informationen zu Flügen weltweit bekommst du auf http://www.skyscanner.ch Die Idee hier ist, du schaust
    dir Preise und Flugzeiten an, und buchst dann, nach reiflichem Überlegen und Abwägen, den dir
    passenden Flug bei der dir am meisten zusagenden Airline. Ich buche immer bei Fluggesellschaften
    direkt, nie bei Reiseanbietern; das kann ein bisschen teurer sein, hat aber den Vorteil, dass mögliches
    Umbuchen leichter ist als durch einen Reiseanbieter. Schliesslich willst du ja für einige Monate weg, und
    nicht bloss für 2-3 Wochen, wie sich das die Normalos maximal leisten können, von der Zeit her
    gesehen, die sie zur Verfügung haben. (Ausserdem kommt bei Reiseanbietern immer noch ein
    Aufschlag auf den Ticket-Preis, so dass man am Ende auch wieder in der Nähe des offiziellen
    Flugpreises ist, den die Airline selbst verlangt.)


    Du siehst, es ist alles nur eine Frage von Knowhow, oder etwas bescheidener formuliert: von Information.
    Informationen bekommt man von Websites, von Reiseblogs und dem Drum und Dran (Google weiss
    bekanntlich alles). Der beste Website für Südostasien ist http://www.thaivisa.com Der beste Website für
    Indien ist http://www.indiamike.com Und dann gibt es noch http://www.tripadvisor.com in den jeweiligen Landessprachen, falls Englisch Mühe macht.


    Also bisher ging es nur um die grundsätzliche Möglichkeit, eine sagen wir mal "Teil-Weltreise" oder
    eine "Weltteil-Reise" für wenig Geld ins Auge zu fassen. Ich wollte zeigen: so eine Reise ist äusserst
    erschwinglich und von wirklich jedermann und jederfrau, gewöhnliche Zurechnungsfähigkeit vorausgesetzt, easy zu unternehmen.

  • Lieber Cello,


    danke für deine ausführlichen Anregungen. Ja, so wie du es beschreibst, gäbe es durchaus Möglichkeiten. Ich schreibe bewusst gäbe, weil ich schon diverse Optionen in Sachen Freiwilligen-Dienst versucht habe und jedes Mal die Erfahrung habe machen müssen, dass es einfach nicht hinhaut. Zu allererst werde ich schräg angeschaut, wenn ich mit als Autist outen muss. Wenn ich mal einen Job hatte, musste ich des Öftern kurzfristig absagen, weil es mir körperlich schlecht ging. Dass man mich so nicht gebrauchen kann, ist nachvollziehbar. Die körperlichen Symptome sind direkt - und das ist das total verrückte - auf den unmittelbar bevorstehenden "Stress" eines Engagements zurückzuführen. Es reicht schon allein der Gedanke - obwohl es mir 100% klar ist, ich es freiwillig tue - und schon streikt mein Organismus. Medizinisch gesehen stammt dieses Verhalten aus dem psychosomatischen Themenkreis. Das geht soweit, dass ich nicht mal mehr ins Auto steigen kann. Plötzliche Muskelverkrampfungen verunmöglichen mir ein Verfolgen der geplanten Aktivität.


    Einsamkeit lindern, eine gute Idee. Nur ich kann niemandem 1 - 2 Stunden zuhören, da meistens über Krankheiten und Sorgen geredet wird - ich habe eine Zeit lang mit alten Leuten aus der Verwandtschaft verbracht. Fazit aus dieser Erfahrung ist, dass ich alles was ich höre, nicht verarbeiten kann, will heissen, es findet sogar in diesem Bereich eine Reizüberflutung statt. Nach einem solchen Miteinander kreist das Gehörte tagelang in meinem Kopf umher und lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Kurz, ich kann es drehen wie ich will, es scheint so, wie wenn jeglicher Kontakt nach draussen einfach zu viel ist.


    Interessant, dass der Begriff Weltreisen offenbar nicht mehr aktuell ist. Wieder etwas gelernt - danke! Mir geht es nicht darum, eine solche Reise unternehmen zu wollen, ich kann nämlich kein Flugzeug besteigen und schon gar nicht damit was weiss ich wohin reisen. Dieses Unvermögen hat nichts mit Flugangst zu tun, aber auf die wahren Gründe möchte ich nicht näher eingehen. Als ich den Begriff aufführte ging es mir eher um ein Beispiel. Trotzdem danke ich dir für die Ausführungen. Sie werden bestimmt anderen hilfreich sein.


    Aber trotzdem: Danke :)

  • Hallo Regenbogen


    Vom Wissenansammeln und/ zum Problemlösen zur Kontemplation und zum (einfach Da-)Sein- das muss gar nicht erschreckend sein, könnte im Gegenteil sogar entlastend sein und macht sogar Sinn, den man hier weder suchen noch finden muss, sondern der sich eben so ergibt, zum einen rein schon mal aus ökonomischer Sicht, wenn die Kräfte und Interessen nachlassen, auch weil doch irgendwie vieles ein deja- vu in Variationen ist. Ich finde wichtig, dass ich über meine Entwicklung im Alter schmunzeln kann. Mir helfen da ein Hund und Spaziergänge in der Natur und bis vor kurzem ein Schrebergarten. Jetzt tut es auch der Balkon. Und manchmal ein gutes Buch lesen, zB über Philosophie oder Museumsbesuche, weil ich Kunst und Kultur etwas vom Schönsten halte, was die Menschheit so hervorgebracht hat. Ich bin nicht vom Spektrum, aber das Altern ist ja auch ein übergreifender Aspekt.
    Eigentlich verstehe ich nicht, warum das Altern nicht auch ein lustvoller (ent-)spannender Lebensabschnitt sein kann, ausser man ist gesundheitlich angeschlagen.
    Whs. verursacht das Gefühl des Alleinseins deshalb im Alter mehr Unbehagen, weil wir auch abhängiger werden können. Aber ob das mit 55 J. oder mit 90 J. passiert, weiss ja niemand vorher.
    Wünsche Dir Zuversicht und gelassene Beobachtung Deiner selbst.
    Cassiopeia

  • Hallo Cassiopeia


    Deine Zeilen sind eine Wohltat! Ich fühle mich beim Lesen seltsam berührt, weil das, was Du schreibst, meine Seele berührt. Ich lese sehr gern und vor allem viel ...


    Neuerdings entdecke ich eine Veränderung, dahingehend, dass ich mir einfach tagsüber die Zeit nehme und mich mal mit einem Buch hinsetze und lese - auch sehr oft über philosophische Themen. Auch versuche ich mich ab und zu im Garten, doch da bin ich völliger Anfänger, noch gelingt es nicht, mal einen Salat "über die Runden zu bringen" aber das wird schon noch. Sogar die Schnecken sind schneller als ich ;)

    Wünschens- und erstrebenswert ist der Aspekt des lustvollen Alterns, ganz so, wie du es beschreibst. Nur leider bin ich gesundheitlich sehr angeschlagen, das heisst, ich würde gerne Spaziergänge in der Natur unternehmen - jetzt, wo ich als IV-Rentner ja alle Zeit der Welt hätte, wenn nur der Körper mitmachen würde. Auch von einem Hund träume ich, nur eben, es geht - noch - nicht. Vielleicht finde ich ja irgendwann mal einen vierbeinigen Seelenverwandten ...

    Dass die Interessen nachlassen, kann ich an mir auch feststellen, erst hat mich die Erkenntnis ziemlich beunruhigt, aber so allmählich beginne ich loszulassen. In dieser Hinsicht hilftmir ein Buch von Anselm Grün sehr: "Die hohe Kunst des Älterwerdens", welches mir kürzlich über den Weg gelaufen ist - das Buch ist besser unterwegs als ich :)


    Ich stimme dir zu, Kunst ist etwas vom Schönsten, wa die Menschheit hergebracht hat, weshalb ich mich auch schon lange aktiv damit beschäftige. Die Kunst gibt mir vieles und sie tut eines nicht: sie verurteilt mich nicht. Man stelle sich vor, ein Bild, welches an einer Wand hängt, würde sich vor dem Betrachter abwenden ...


    Ich danke Dir und lass es Dir gut gehen :thumbsup:

  • Regenbogen: ich kann deine Einschränkungen einigermassen nachvollziehen, nachdem du sie erwähnst, sehe aber auch, dass du dich eher zu stark selbst reduzierst, statt zunächst einmal im Sinne eines Brainstormings Möglichkeiten zu erkunden, aus der sozialen Isolation auszusteigen. Mein Erwähnen der Milderung von Isolation und Einsamkeit anderer war nur ein Beispiel von Freiwilligenarbeit; es gibt immer wieder auch andere Einsatzmöglichkeiten, die weniger oder gar keine Konfrontation mit andern voraussetzen (zB wenn jemand eine Person sucht, die mit dem Hund einmal pro Woche einen Spaziergang macht, oder ähnliches). Ich will damit nur sagen: es gibt bestimmt einmal genau die Einsatzmöglichkeit, die deinen Fähigkeiten und Ressourcen entspricht.


    Was ich nicht verstehe, ist das Outing als Autist. Es ging doch auch 50 Jahre ohne, warum jetzt plötzlich allen alles auf die Nase binden wollen/sollen?


    Du erwähnst das Autofahren: Ich hoffe, dass du das nicht aufgibst. Ich habe zwei Jahre lang versuchsweise mein Auto abgestellt, im Gedanken, mich vollständig auf ÖV zu verlassen. Ich merkte erst wieder, was mir fehlte, als ich wieder Auto zu fahren begann. Die kleinen Aufmerksamkeiten, die man im Verkehr andern Teilnehmern schenkt, wie Vortritt lassen aus Einmündungsstrassen, aus denen es schwierig ist, sich in den Verkehrsfluss einzugliedern, geben einem ein derart gutes Gefühl, gerade auch dann, wenn einem eine erhobene Hand zum Dank zuwinkt. Das sind non-verbale Streicheleinheiten, die AS-Betroffenen wie uns besonders gut tun, und die ein momentanes Gefühl der Verbundenheit vermitteln.


    Ein weiteres sehr kleines, aber doch wichtiges Mittel der Kommunikation ist das Grüssen auf der Strasse, gerade auch wenn es ältere Menschen sind, die einem begegnen. Ich denke oft, dass mein aufmerksamer Gruss jemandes Highlight des Tages sein kann, so wie es mich beglücken kann, jemandes Anwesenheit im kurzen Moment des Vorbeigehens wahrzunehmen und verbal zu respektieren. Man sieht sehr viel Trauer und Verlassenheit in den Gesichtern der einem Begegnenden, und vermutlich zeigen wir selbst ähnliche Gesichtsausdrücke. So ist gerade das Grüssen ein kleines, aber wichtiges Medium, Verbundenheit auszudrücken und zu erleben. Ein kurzes Geben und Empfangen der schönsten Art!

  • Lieber Cello,


    wie immer sind deine Ausführungen sehr interessant. Es gibt bestimmt die Mögllichkeit des Aussteigens aus der sozialen Isolation, da stimme ich dir voll und ganz zu. :thumbup:


    Nein, das Autofahren gebe ich nicht auf, meine Erwähnung hierzu fusst auf einem Beispiel. Das Unvermögen, beispielsweise einen Termin wahrnehmen zu müssen, fängt meistens schon vor dem Besteigen des Autos an, so gesehen steht die Tätigkeit des Fahrens mit dem Auto nur an letzter Stelle. Aber den genauen Prozess der "körperlichen Weigerung" hier detailliert aufzuführen ist meines Erachtens fehl am Platz.


    Du hast recht, ich mag die kleinen Aufmerksamkeiten beim Autofahren sehr, führe solche sehr oft durch, sei es beispielsweise beim Anhalten an einem Fussgängerstreifen, wo ich das Danke der Passanten erwidere. Oder wenn ich als Fussgänger einem Autofahrer, einer Autofahrerin danke, dass er oder sie mir das Passieren des Fussgängerstreifens ermöglicht. Das sind, wie du schreibst, Streicheleinheiten, die wirklich ein Gefühl der Verbundenheit beinhalten. Das sehe und spüre ich, was mir gut tut.


    Auch was das Grüssen auf der Strasse anbelangt, stimme ich dir voll zu. Es ist jedoch einfacher, mir fremde Menschen zu grüssen, die auch dann und wann mal den Gruss erwidern. Hier in der Nachbarschaft, wo jeder weiss, dass ich Autist bin, gehen mir die Leute wenn möglich aus dem Weg oder ignorieren mich. In einem kleinen Dorf weiss jeder alles über den anderen und Autismus scheint bei den meisten etwas zu sein, das tabu ist. Da ist einer, der IV-Rente bezieht, wir hingegen, ja wir arbeiten und sind demzufolge "etwas" wert, wogegen der da ( ich ) ein Sozialschmarotzer ist. Ja, so habe ich das wortwörtlich schon zu hören bekommen, man würde es nicht glauben. So erlebt man die soziale Kompetenz oft auf merkwürdige Art und Weise. Wie die Leute herausbekommen haben, dass ich IV-Rentner und Autist bin? Keine Ahnung, irgendwo sickert immer etwas durch.


    Das mich Outen als Autist ist einfach erklärt. Wenn ich mich als Mittfünfziger irgendwo vorstelle und sage, dass ich viel Zeit für XY habe, dann ist die Frage nach dem Warum schnell zur Stelle. Ja, was antworte ich darauf? Ich kann schlecht lügen, also rücke ich mit der Wahrheit raus und schon sind die Würfel gefallen. Wenn ich sagen wir mal 10 Jahre älter wäre und dementsprechend aussähe, dann würde sich niemand zu dieser Frage genötigt sehen. Aber bei mir ist das etwas anders, ich sehe noch nicht so aus wie ein "normaler" Rentner, will heissen wie wenn ich mich als im AHV-Alter befinden würde. Wobei die Frage erlaubt ist, wie denn ein AHV-Rentner aussieht oder auszusehen hat ...


    Für mich stellt das Internet eine wenn auch beschränkte Form von Sozialkontakten dar. So habe ich ein paar Freunde und Freundinnen, mit denen ich per Mail in mehr oder weniger regelmässigem Kontakt stehe. Diese Art von Kommunikation ersetzt selbstredend die direkte in keinster Weise, hat jedoch für jemandem wie mich entscheidende Vorteile. Darüber wurde schon in Publikationen berichtet.


    Wenn ich mal echt dringend das Bedürfnis nach sozialer Umgebung verspüre, dann setze ich mich für einen Moment in ein Café und fühle mich dadurch mit den anwesenden Mitmenschen verbunden, auch wenn ich niemanden kenne. Es reicht schon, gewisse Stammgäste wiederzuerkennen. Ich kenne diese zwar nicht persönlich, es ist aber dennoch eine Art von Wiedersehen.


    Wir sind alle auf der Suche nach dem richtigen Weg. So erschaffe ich mir mit langsamen Schritten eine "neue" Welt. Vieles muss ich ausprobieren, oft gelingen die Versuche nicht zu meiner Zufriedenheit, andere hingegen entwickeln eine Eigendynamik, die ich nie für möglich gehalten hätte.

  • Statt sich mit einer Schlagwort-Diagnose ("Autismus" oder ähnliches) zu outen, tut man besser daran, beschreibende Symptomsachverhalte zu nennen. Eine Antwort könnte also lauten: "Ich leide an einer Reizfilterschwäche, die es mir zunehmend verunmöglichte, mich in meinem beruflichen Umfeld angemessen zu positionieren, vor allem auch, da ab einem bestimmten Alter der Arbeitsmarkt mit Stellenangeboten stark reduziert ist. So bekam ich schliesslich eine IV" etc. Du siehst, was ich meine: So kannst du dann nämlich auf Nachfrage hin ausführen, was Reizfilterschwächen sind und wie sie sich auswirken. So eine Sprechweise weckt viel mehr Verständnis in einem Gesprächsgegenüber als eine nichtssagende Plakativ-Nennung wie ASS... und führt vor allem zu keinen Vorverurteilungen irgendwelcher Art (plus sie hebt auch dein Selbstverständnis und dein Selbstwertgefühl).