Erziehung frühkindlicher Autismus als Stiefmama

  • Hallo liebe Mitglieder,

    heute bin ich zum ersten Mal in einem Forum und richte sicherlich keine einfache Frage/Bitte an euch.
    Hoffentlich lest ihr bis zum Schluss und könnt mir einen Denkanstoß geben.
    Zunächst zu mir (uns). Seit 2 Jahren lebe ich mit meinem Freund zusammen, der alleinerziehender Vater eines 7-jährigen Mädchens ist. Lea wurde mit frühkindlichem Autismus diagnostiziert, ist jedoch durchschnittlich intelligent und besucht eine Regelschule mit Integrationshilfe (wir leben in Deutschland). Lea ist zu 80 % schwerbehindert und sehr stark gehandicapt. Den Alltag kann sie nur unter 24 h Anleitung bewältigen, sie benötigt also bei allem Hilfe. Die Sprache ist auch sehr unterentwickelt, Lea kommuniziert nur wenn sie etwas möchte, oder wenn sie verbale Zwänge durchspielt. Andere Menschen nimmt sie nur bedingt wahr, meistens ist sie komplett in „ihrer Welt“ und interessiert sich nicht für ihre Umwelt. Kinder sind unsichtbar für sie. Bisher habe ich noch keinen so „schweren“ Fall von Autismus erlebt wie bei ihr.
    Meine Frage geht in Richtung Erziehung. Mein Freund ist ein überaus fürsorglicher Vater, der Lea quasi alleine großgezogen hat. Er bringt große Opfer und stellt seine Bedürfnisse komplett zurück. Dass dies bei einem behinderten Kind natürlich ist, ist unbestritten. Jedoch hat er in meinen und in Augen aller Bekannter/Verwandter eine „Blase“ um sie gebildet. Im überspitzten Sinne folgt er ihr auf Schritt und Tritt, erfüllt all ihre Wünsche, hebt sie auf ein Podest und lässt sich von ihr „kommandieren“.
    Und nein, hier spricht keine Eifersucht, ich bin selbst Pädagogin und bewahre Neutralität und Abstand, um die Situation zu beurteilen.
    Lea geht aktuell durch eine schwierige Phase, in der sie Grenzen testet und meine/unsere volle Aufmerksamkeit beansprucht. Auch wenn sie im Spiel in ihrem Zimmer vertieft ist, brüllt sie nach uns, um verbale Zwänge zu wiederholen (Lea: „Normal“ Papa: „ Das ist normal“). Dass Lea stabile Umwelteinflüsse braucht und sich durch diese verbalen Zwänge die Welt ordnet, ist mir völlig klar. Die Therapeutin riet uns, diese Zwänge abzustellen, also versuchen wir es zunehmend zu ignorieren, wenn sie uns zur Wiederholung ihrer Wörter/Sätze bringen will. Auch meinte sie, dass wir bei schlechtem Verhalten konsequent sein sollen und gutes Verhalten loben. Soweit macht dies ja auch alles Sinn. Mein Freund hat in der vergangenen Woche auch schon große Fortschritte in seinem Umgang mit ihr gemacht und war strenger und konsequenter.
    Lea „durfte“ z.B. in der Vergangenheit nie brüllen, beim kleinsten Schreien lief er stets zu ihr, gab ihr Aufmerksamkeit, lenkte sie ab etc. Dies half jedoch in letzter Zeit nur bedingt. Als sie kleiner war, ließ sie sich von ihm beruhigen, doch in den letzten Monaten schaukelt sich ihr „schlechtes Benehmen“ noch mehr hoch, je mehr Aufmerksamkeit man ihr schenkte. Obwohl sie schlechtes Verhalten zeigt, und eigentlich „bestraft“ werden sollte, musste man sich 20-30 Minuten mit ihr zusammensetzen, verbale Zwänge durchspielen und sie „bespaßen“. Da ich Lea in den Ferien oft alleine hatte, habe ich es so gemacht, dass sie bei schlechtem Benehmen a) ihr Spielzeug verliert und b) ignoriert wird. Das funktionierte auch recht gut, führte jedoch zu vielen Brüllanfällen.

    Zu meinem Forumsbeitrag hat mich heute Morgen folgende Situation bewogen. Lea und ich sind alleine zu Hause und Lea spielte mit ihrem Lieblingsspielzeug. Sie fing an zu meckern, wollte, dass ich Sätze nachspreche, brüllte nach mir, wenn ich nicht sofort da war. Da wanderte ihr Spielzeug in die Black Box (habe ich gestern eingeführt). Ich habe ihr ganz ruhig erklärt, dass das Spielzeug erst wieder kommt, wenn sie lieb ist. Natürlich alles in kurzen, klaren Sätzen und mit der Box als visuelle Stütze in der Hand.
    Ihre Laune wurde schlechter, sie brüllte mehr, verlange dass ich „Normal“, „Mann“, „Frau“, etc. wiederhole. Ich habe ihr erklärt, dass ich jetzt nicht wiederhole und immer wieder gesagt, „Wenn du lieb bist, kommt das Spielzeug aus der Box“, und „Wenn du schreist, dann bleibt das Spielzeug in der Box“.
    Ich habe derweil versucht, mich in der Küche zu beschäftigen und sie zu ignorieren. Ihr Brüllen wurde schlimmer, da habe ich sie in ihr Zimmer geschickt. Da ging es dann richtig los. Man hätte meinen können, dass sie abgeschlachtet wird. Sie schrie: „Die Nadja kommt gleich“ immer und immer wieder. Al s ich ins Zimmer ging, um ihr zu erklären, dass sie nicht lieb ist etc. hat sie sich dann an etwas anderem „hochgeschaukelt“. Sie brüllte dann „rote Hose“ und „Weihnachtsmann“ wegen meiner Hose. Da ich dies auch nicht wiederholte ging es weiter und weiter. Als sie kurz innehielt und nicht brüllte, fragte sie mich ganz normal nach einer Banane. Zunächst war ich unsicher, was ich tun sollte. Dann sagte ich ihr aber, sie solle ruhig sitzen bleiben, ich hole ihr eine. Dann ließ ich sie alleine und sie war innerhalb von 5 Minuten vergnügt und fröhlich. Daraufhin habe ich die Box runtergeholt und ihr das Spielzeug gegeben.
    Das Brüllen geht einem wirklich durch Mark und Bein und ich weiß genau, wenn ihr Vater da gewesen wäre, hätte er es nicht so lange durch gehalten. Prinzipiell wollte ich sie sich „ausschreien“ lassen. Die Banane hat mich diesmal gerettetJ . Ich weiß einfach nicht, wo Autismus anfängt und es wirklich quälend für sie ist und wo es „nur“ mangelnde Erziehung/Übung ist.
    Gibt es irgendjemanden, der Tipps hat/ähnliche Erfahrungen/ Ratschläge?
    Natürlich wird Lea immer mehr Aufmerksamkeit brauchen als andere Kinder, aber sie ist eben auch normal intelligent, versteht komplizierte Zusammenhänge bei Spielen….Daher denke ich, dass es doch möglich sein muss, schlechtes Verhalten zu mindern und gutes zu fördern?! Es ist auch schwierig mit meinem Freund, weil er sich sehr umstellen muss und mitunter bestimmt denkt ich sei eine Hexe L.
    Lea hatte nie eine richtige Therapie und wurde auch nur bedingt gefördert in der Vergangenheit. Mein Freund hat wie gesagt eine Blase um sich und sie gezogen und Hilfe oft abgelehnt. Ich versuche Dinge zu ändern und zu verbessern, auch weil ich eventuell einmal ein Kind möchte und Erziehung in meinen Augen auch bei ihr möglich ist.
    Danke fürs Lesen und vielleicht kann ja jemand irgendwie helfen….:)

  • Liebe Minnie


    So oder so habt ihr eine sehr schwierige Basis und ich wünsche Dir und Deinem Freund die Kraft, diesen Weg zusammen zu gehen. Ganz unabhängig davon, ob man ein behindertes Kind hat oder nicht, ist eine Patchworkfamilie eine Herausforderung.


    Auch ich kenne die Zwänge bei unserem Sohn. Er stimuliert sich stark über akustische Reize, wiederholt ständig Dinge, macht Geräusche, das kann je nach (meiner) Tagessituation ganz schön an die Nerven gehen.


    Ich denke jeder Autist ist so eigen, dass es schwer ist, Dir einen guten Rat zu geben. Und ich als Mutter frage mich auch oft, wo ist ein Thema basierend auf seinem Handicap und wo ist es einfach ein Charakterzug oder eben bei unserem Sohn auch eine pubertäre Sache. Wirklich sagen kann das keiner, nur schon, weil man ja nicht sagen kann, wie Lea wäre, hätte man gewisse Dinge von Beginn weg anders gehandhabt.


    Dass Dein Freund sie in eine "Blase" packt, kann ich gut verstehen. Ich habe viele Jahre gebraucht, um aus dieser Blase heraus zu kommen. Unser Sohn ist inzwischen 15 Jahre alt und es ist noch nicht lange her, dass ich nicht immer schützend vor ihn stehen musste und versuchte immer allen alles zu erklären, ihm immer alles recht machen wollte etc... Dabei habe ich, um ehrlich zu sein, nicht nur ihn schützen wollen sondern vielmehr mich selber! Inzwischen ist das anders: Ich stehe nun hin und sage "Wir haben ein behindertes Kind". Das war aber ein langer, oft schmerzhafter Weg. Ich glaube, das ist sehr individuell und da musst Du Deinem Freund Zeit geben mit allem klar zu kommen. Dazu fällt mir ein schöner Spruch ein, den ich in einem Buch gelesen habe:


    Wir haben ein behindertes Kind....
    Wenn Eltern das ruhig und gelassen aussprechen können, sollte man wissen, dass vorher Betttücher nassgeweint wurden, unzählige Hoffnungen und Wünsche begraben wurden, dass man auf viele Freunde verzichtet hat und mit dem behinderten Kind in eine Welt getaucht ist, in der man nur noch beschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. (Anders 1999, 154)

    Zurück zu Deiner Frage. Ich denke sehr wohl, dass man "gutes Verhalten" fördern kann. Dass man negatives Verhalten unterbinden kann, hat bei uns nie geklappt. Irgendwie hat er auch nach tausend Wiederholungen nichts an seinem Verhalten ändern können, obschon er die Konsequenzen jedes Mal erlebt hat. Ich habe also nur noch auf positiv Bestärken gesetzt. Inzwischen kann er recht gut damit umgehen. Und wenn er wieder diese Zwänge hat (und das ist dann ziemlich heftig, laut und nervenaufreibend), dann scheint mir, die Phasen dauern kürzer. Er selber sagt dann, dass er auch nicht wisse, warum die auf einmal kommen, er aber nicht von alleine da wieder raus komme....


    Leider kein wirklicher Rat von mir, sorry. Aber wenn ich einen wichtigen Rat in diesem Zusammenhang geben kann, dann jener: Sorgt Euch gut um Eure Beziehung. Nehmt Euch Auszeiten. Redet viel. Richtet Euch immer wieder Inseln ein, in denen Ihr als Paar einfach zusammen sein könnt... der Alltag ist anstrengend, da muss man sich solche Zeiten wirklich bewusst hüten!


    Liebe Grüsse
    Patch

  • Liebe Minnie,


    ich finde, Lea kann sich glücklich schätzen, eine so tolle Stiefmama zu haben! Ich habe einen 10-jährigen Sohn mit Asperger-Syndrom, der z.T. ähnliches Verhalten zeigt. Es braucht sehr viel Kraft und Ausdauer, eine solche Situation durchzuhalten und konsequent zu bleiben. Ich schliesse mich Patch an, dass ich auch immer wieder versuche, das gute Verhalten zu belohnen. Auch, dass Ihr Euch regelmässig eine gemeinsame Auszeit nimmt, wo man sich als Partner aufeinander konzentrieren kann.


    Sind meine Nerven schlecht an einem Tag, wo mein Sohn «alles» von mir fordert, falle ich in eine ähnliche Haltung wie Dein Freund, dem Frieden zu liebe… was sich aber negativ auf mich zurück wirft. Darum, bleib dran. Ich denke, Lea wird schnell unterscheiden können, was bei Dir möglich ist, und was bei Ihrem Vater. So, wie das halt bei anderen Kindern auch ist. Eltern verhalten sich ja nicht immer gleich.
    Dein Freund scheint jetzt schnell auf die Tipps der Therapeutin zu reagieren. Das finde ich super! Von einer aussenstehenden Person ist das sicher einfach anzunehmen als von einem Partner/in. Schön, dass Ihr Unterstützung habt.


    Ich wünsche Euch weiterhin viel Kraft, Ausdauer und vorallem auch Ideen und Humor im Umgang mit Lea.
    Liebe Grüsse
    Manuela

  • Liebe Minnie,


    Ich bin keine Expertin oder Therapeutin, habe aber schon mit vielen unterschiedlichen Kindern zusammengearbeitet, darunter auch autistische Kinder. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass Zwänge vor allem in Stresssituationen ausgelebt werden. Ein Mädchen schrie sehr laut und biss sich selber immer wieder in den Arm, andere wiederholten immer die gleichen Sätze oder Worte usw.
    Ich selber vermute, dass ich Asperger Autistin bin und auch ich habe Verhaltensmuster, die man als Zwänge bezeichnen würde. Diese treten immer dann zum Vorschein, wenn ich unter Stress stehe, eine Situation mich überfordert. Immer das Gleiche zu tun, zu sagen oder zu wiederholen beruhigt. Es ist vorhersehbar.


    Aus diesem Grund würde ich auch eher positives Verhalten bestärken als unerwünschtes zu bestrafen. Ich denke nicht, dass Lea 'mit Absicht' ihre Zwänge auslebt. Vielleicht hat sie beim Spielen etwas beunruhigt. Ein anderes Kind würde vielleicht anfangen zu weinen oder zu dir kommen und Fragen stellen. Lea versucht durch die Zwänge einen Ausweg zu finden.
    Natürlich kann ich aber verstehen, dass du da nicht 'mit spielen' möchtest. Mein Vorschlag wäre, eine für alle annehmbare Alternative zu suchen. Was könnte Lea tun, wenn sie mit einer Situation nicht zurecht kommt?
    Wie gesagt, ich bin auf diesem Gebiet keine Fachperson, es sind nur die Erfahrungen, die ich selbst gemacht habe. Ich würde es in jedem Fall mit der Therapeutin besprechen.


    Alles Gute und liebe Grüsse