Vor einigen Wochen wurde unser Sohn (mit atypischem Autismus), initialisiert durch seine Klassenlehrperson, mit einer rechtlichen Verfügung vom Klassenlager dispensiert. Solche Verfügungen dienen normalerweise dazu, gewaltbereite Jugendliche im Notfall von ausserschulischen Aktivitäten wegzuweisen. Da die Verfügung erst drei Wochen vor dem geplanten Lager bei uns eintraf, gab es aufgrund der Fristen für uns keine Möglichkeit mehr, die Entscheidung durch eine Anfechtung zu revidieren. Wir mussten diese demnach notgedrungen hinnehmen.
So fuhr dann die ganze Klasse Ende Mai ins Klassenlager - der Höhepunkt des Jahres, wie die Schule stets betonte. Unser Sohn musste zu Hause bleiben und für diese Woche am Unterricht einer Parallelklasse teilnehmen. Seine Klasse auf Zeit bereitete sich gerade in dieser Woche ebenfalls auf ihr Lager vor und nahm unseren Sohn auf eine Wanderung, die zur Einstimmung gedacht war, ebenfalls nicht mit.
So fand die „Schulreise“ unseres Sohnes alleine, nur mit Schulbegleiterin und Mutter, in den Zürcher Zoo statt.
Meiner Meinung nach ist dies ein sehr schlechtes Beispiel für Integration. Einer ganzen Klasse wurde vorgeführt, dass man nicht bereit ist, von Beginn weg ein Lager zu planen, welches auch einem Menschen mit besonderen Bedürfnissen eine Teilnahme ermöglicht. Sobald auf diese spezifischen Bedürfnisse eines Menschen eingegangen werden muss, wird der „Problemfall“ einfach zu Hause gelassen. Dabei haben eigentlich Lehrpersonen wie auch die ganze Klasse bereits zwei Jahre lang im regulären Schulbetrieb bewiesen, dass eine Teilnahme möglich ist.
Natürlich ist auch die Frage wesentlich, ob unser Sohn überhaupt am Lager teilnehmen wollte. Ja – er wollte dabei sein, wie er immer wieder selber betonte. Denn für ihn ist klar und selbstverständlich, dass er zur Klasse dazu gehört. Er ist ein vollwertiges, moralisch gleich berechtigtes Mitglied seiner Klasse. Als Schüler mit einer dem Umfeld bekannten Andersartigkeit hätte er unseres Erachtens zudem auch Anspruch auf einen „Plan B“ gehabt, d.h. er hätte selbst bestimmen dürfen, ob er, sollte es für ihn nicht stimmen, wieder nach Hause fährt. Die Teilnahme am Unterricht einer Parallelklasse mit anderem Stundenplan stellte ausserdem für unseren Sohn auch eine grosse Herausforderung dar, fehlten ja die Klassenkameraden, die ihn sonst in schwierigen Momenten schon alleine durch ihre Anwesenheit beruhigen und stützen. Das Kindswohl stand in keinem Moment wirklich im Vordergrund, sondern die Durchführung eines Klassenlagers ohne Kompromisse war wichtiger.
Einmal mehr wird mir klar, wie sehr solche Fragen von der inneren Haltung einzelner Menschen abhängig sind. Bejaht diese innere Haltung die Integration eines Schülers ganz grundsätzlich und vorbehaltlos, ist das Beschreiten des
Rechtsweges mit dem Ziel des Ausschlusses eigentlich gar nicht möglich. Niemand mit einer grundsätzlich positiven Einstellung in dieser Frage käme auf die Idee, hier juristische Mittel einzusetzen. Ein Klassenlager, das eigentlich den
Höhepunkt des Schuljahrs darstellen soll, wird dann nämlich sehr schnell zum Tiefpunkt für alle. In jedem Fall wäre der Dialog, auch ein kritischer, die bessere Lösung.
Es ist mir klar, dass gerade bei Fragen der Integration von Schülern mit speziellen pädagogischen Bedürfnissen beide Seiten sehr verletzlich sind. Da ist es besonders wichtig, sich gegenseitig einzubeziehen. Leider ist dies im oben beschriebenen Fall nicht gelungen.
Nächstes Schuljahr kommt unser Sohn in eine neue Klasse, was uns jetzt die Möglichkeit gibt, nur noch nach vorne zu schauen. Die ersten Gespräche sind äusserst vielversprechend. Die innere Haltung scheint zu stimmen. Man ist nicht mit allen unseren Vorstellungen einverstanden, was in Ordnung ist. Aber wir sprechen miteinander und versuchen, uns zu verstehen. Auch für die Schule und die Lehrpersonen ist die Integration von Menschen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen eine grosse Herausforderung. Diese kann nur gemeinsam gemeistert werden.
Ich freue mich auf den weiteren Verlauf unseres „Integrations-Projektes“. Der eingeschlagene Weg ist der Richtige. Die positiven Momente überwiegen bei weitem...
Euch allen, an Integration beteiligten, wünsche ich viel Kraft, Durchhaltevermögen und gute Zusammenarbeit im neuen Schuljahr.
Herzliche Grüße,
Nicole Ulrich-Neidhardt