Urteil des Verwaltungsgerichts St. Gallen zum Nachteilsausgleich an der Universität St. Gallen

  • Zusammenfassung der Rechtsprechung:



    Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen hat entschieden, dass kein Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot und das Öffentlichkeitsprinzip vorliege, wenn aus den Informationen und Hinweisen der Universität St. Gallen nicht ersichtlich sei, wer unter welchen Voraussetzungen Anspruch auf Nachteilsausgleiche für Prüfungen hat und welcher Art diese im Einzelfall sein können (Verwaltungsgericht, B 2012/231).


    Das Verwaltungsgericht St. Gallen hatte einen Fall zum Nachteilsausgleich zu entscheiden. Dies ist trotz des negativen Urteils bemerkenswert und ein Schritt in die richtige Richtung. Denn der grosse Gewinn ist, dass sich das Verwaltungsgericht in der Tat mit dem Nachteilsausgleich befasst, d.h. diesen explizit anerkennt.


    Das Verwaltungsgericht St. Gallen führte in seinem Entscheid aus, dass das Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG) auf kantonale Bildungsangebote nicht direkt anwendbar sei. Es bestätigte aber, dass gestützt auf Art. 8 Abs. 2 der Bundesverfassung (BV) und den Vorgaben des BehiG bei Beeinträchtigungen wie ADHS-Störungen oder Dyslexie unter Umständen ein Anspruch auf Anpassung der Prüfungsbedingungen besteht. Damit bestätigt das Verwaltungsgericht St. Gallen immer hin den Anspruch auf den Nachteilsausgleich.


    Das Gericht führte in seinen Erwägungen weiter aus, dass den Prüfungsbehörden beim Entscheid darüber, ob und in welcher Form Prüfungserleichterungen gewährt werden, grundsätzlich ein weiter Ermessenspielraum zu komme und hielt fest, dass die Prüfungsbehörden in der Praxis regelmässig nur auf rechtzeitiges Gesuch hin und nachdem der Nachweis der Behinderung oder einer Leistungsstörung aufgrund eines aktuellen Fachgutachtens erbracht wurde, tätig werden und den Nachteilsausgleich gewähren. Dies dürfte wohl auch für Fälle in der Primar- und Sekundarschule der Fall sein.


    Die Universität St. Gallen darf ohne Verletzung des Diskriminierungsverbots verlangen, dass Studierende, die aufgrund einer krankheitsbedingten Beeinträchtigung in ihrer Leistungsfähigkeit darauf angewiesen sind, dass diesem Umstand bei Prüfungen Rechnung getragen wird, die zuständige Stelle vorgängig informieren. Tun sie es nicht, müssen sie die Folgen daraus selber tragen.


    Begründung des Verwaltungsgerichts:

    Das Verwaltungsgericht begründete diesen Entscheid u.A. damit dass verhindert werden soll, dass jemand in Kenntnis seiner Beeinträchtigung eine Prüfung ablegt und nachträglich - im Fall eines Scheiterns - die Annullation der Prüfung verlangt. Eine Anordnung, wonach die Prüfung (im vorliegenden Fall ein zweites Mal) wiederholt werden darf, würde die Chancengleichheit unter allen Kandidaten verletzen und widerspräche dem Gebot der rechtsgleichen Behandlung, zumal immer wieder damit gerechnet werden müsste, dass nachträglich Gründe vorgebracht werden, um ungenügende Leistungen zu rechtfertigen.Auf den zu beurteilenden Fall hiesse dass, auch wenn die Beeinträchtigung eines Prüfungskandidaten nicht nur vorübergehender Natur ist, die Universität St. Gallen deshalb ohne Verletzung des Diskriminierungsverbots verlangen darf, dass diese nicht erst geltend gemacht wird, wenn die Prüfung bereits absolviert und das (negative) Resultat bekanntgegeben worden ist. Von Absolventen eines universitären Studienlehrgangs, die seit Jahren an bestimmten gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie einer ADHS-Störung, Legasthenie und Dyslexie leiden, darf, so das Verwaltungsgericht St. Gallen, nach Treu und Glauben erwartet werden, dass sie sich über die Modalitäten für Prüfungserleichterungen ins Bild setzen und die zuständigen Stellen vor der Prüfung von sich aus darüber informieren, aufgrund welcher Krankheit oder Behinderung sie besondere Prüfungsbedingungen beanspruchen.


    Was bedeutet dies für den Alltag von Menschen, welche einen Nachteilsausgleich benötigen?


    Zum einen ist es wichtig, sich vor Eintritt in eine Schule oder eine Institution Gedanken darüber zu machen, wann und in welcher Form eine allfällige Beeinträchtigung mit den zuständigen Lehrpersonen aufgenommen werden kann und soll. Voraussetzung für die Gesprächsaufnahme ist jedoch, dass die Beeinträchtigung fachmännisch und beweisbar festgestellt wurde und sich somit in Bezug auf die Diagnose keine grundsätzlichen Fragen ergeben. Sodann empfiehlt es sich, bereits mit konkreten Vorschlägen und wenn möglich Empfehlungen von Fachleuten das Gespräch zu suchen und von den Lehrpersonen nicht einfach "einen Nachteilsausgleich" zu fordern. Die Lehrpersonen oder Schulleiter sind oftmals mit dieser Forderung überfordert und fühlen sich möglicherweise in eine Ecke gedrängt. Dies ist keine gute Basis für eine Besprechung über mögliche Massnahmen, welche von allen positiv erlebt werden sollte.



    Weiter ist es wichtig, dass an Sitzungen gefasste Beschlüsse von den Beteiligten in einem Protokoll festgehalten werden, denn nur so erreichen besprochene und beschlossene Massnahmen eine gewisse Verbindlichkeit. An einer solchen Sitzung muss aber auch immer besprochen werden, in welchem Zeitintervall die Massnahmen überprüft und wieder besprochen werden. Weiter empfiehlt es sich, die mit den Massnahmen zu erreichende Ziele verbindlich festzulegen, wobei solche Ziele für alle Beteiligten realistisch sein müssen.


    Wichtige Erkenntnis:


    Wichtig ist die Erkenntnis, dass man sich nicht einfach darauf verlassen darf und soll, dass die Schule, die Behörden, die Institution schon das richtige macht und von sich aus einen angemessenen Nachteilsausgleich gewährt. Es braucht eine (frühzeitige) respektvolle und intensive Zusammenarbeit der Betroffenen und Beteiligten.

  • Dieses, für mich fragwürdige, Urteil sollte man vom Menschenrechtsgerichtshof überprüfen lassen.
    Ein etwaiger Migragrationshintergrund wird üblicherweise auch gewürdigt, dies sollte bei einer Wahrnehmungsbehinderung billigerweise auch der Fall sein.

  • Zitat: "Von Absolventen eines universitären Studienlehrgangs, die seit Jahren an bestimmten gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie einer ADHS-Störung, Legasthenie und Dyslexie leiden, darf, so das Verwaltungsgericht St. Gallen, nach Treu und Glauben erwartet werden, dass sie sich über die Modalitäten für Prüfungserleichterungen ins Bild setzen und die zuständigen Stellen vor der Prüfung von sich aus darüber informieren, aufgrund welcher Krankheit oder Behinderung sie besondere Prüfungsbedingungen beanspruchen. "


    Genau, daher geht das Urteil auch voll in Ordnung. Ich finde die Begründung durchgehend logisch und nachvollziehbar.

  • Ist eine Beeinträchtigung irgend einer Art bereits vor dem Studium bekannt, hilft die an jeder Uni und Fachhochschule zuständige Stelle für barrierefreies Studieren gerne bei den nötigen Formalitäten weiter.
    Tritt eine Einschränkung erst während des Studiums auf oder wird erst dann in ihrer vollen Tragweite erkannt, ergeben sich manchmal für Studierende Hürden. MentorInnen und DozentInnen, welche die Studierenden begleiten, kennen manchmal die nötigen Schritte nicht, wie es zu einem Nachteilsausgleich kommen kann. An grösseren Unis ist jedoch glücklicherweise die oben genannte Fachstelle meistens bei den Lehrbeauftragten bekannt. Es ist jedoch ratsam zu wissen, dass die entsprechenden Amtswege einige Zeit in Anspruch nehmen und sich dadurch vielleicht Nachweisleistungen oder Prüfungen verschieben können.

  • Das werte 'AUTISMUS FORUM SCHWEIZ' hat zu dieser Problematik (ja das ist eine Probemetik und keine Thematik mehr, wenn der verbriefte Nachteilsausgleich plötzlich so in Frage gestellt wird) eine sehr gute und umfassende Broschüre herausgegeben. Der Nachteilsausgleich ist sonnenklar in der UNO-Behindertenrechtskonvention festgehalten.
    Die 'autismusgruppe winterthur', eine erfolgreiche Selbsthilfegruppe für erwachsene autistische Menschen, hat dazu ein Kurzvideo gedreht. Im deren Anhang ist das Wesentlichste dieses Nachteilsausgleiches zusammengefasst. Der YouTube-Anhang ist zweifellos interessanter als das eigentliche Video.