Pubertät und kein Selbstwert

  • Liebes Forum


    Vielleicht kann mir hier jemand einen Tip geben, was ich tun kann.
    Meine Tochter ist 16 mit frühkindlichem Autismus und geistiger Behinderung. Sie kann verbal schlecht kommunizieren, spricht sehr rudimentär. Mit dem Einsetzen der Pubertät brachten wir es zu Hause nicht mehr auf die Reihe; ich bin alleinerziehend und wir bekamen unglaubliche Probleme, so dass sie seit zwei Jahren in einem Sonderschulheim lebt. Das war für uns alle die beste Lösung. Meine Tochter hat aber starkes Heimweh.


    In letzter Zeit fällt mir auf, dass sie immer weniger Selbstvertrauen hat und sich komplett in sich selber zurückzieht. Sie sagt kaum noch etwas und sobald sie merkt, dass das, was sie sagt, Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist ihr das unangenehm und sie verkriecht sich. Mir fällt auf, dass sie oft sagt, was sie glaubt, dass man hören will. Einfach damit sie nicht auffällt und keine weiteren Fragen mehr beantworten muss.
    Wenn sie etwas macht, braucht sie pausenlos Bestätigung, dass sie es gut macht.
    Wenn sie irgendwohin mitkommt, z.B. zum Stadtbummel, dann läuft sie in sich zusammengesunken hinterher, immer darauf bedacht, den Anschluss nicht zu verlieren, denn sie ist komplett orientierungslos. Als ob sie einfach irgendwie versucht, dabei zu sein, aber gar nicht versteht, was abgeht und vor allem gar nicht dabei ist.


    Es tut mir wahnsinnig weh, sie so zu erleben und ich habe das Gefühl, dass sie mir zunehmend entgleitet. Ich kriege kaum mehr etwas aus ihr raus, weder was sie freut noch was sie traurig macht. Das war früher zwar auch schwierig, aber nicht so sehr. Vor allem habe ich jetzt das Gefühl, dass sie sich gar nicht mehr getraut, etwas zu sagen was von ihr kommt und wirklich ihre Befindlichkeit oder ihre Gefühle sind. Sondern nur noch reinpassen will und nicht negativ auffallen.


    Ihr Körper hat sich sehr verändert, er ist fraulich geworden und auch sehr schwer. Sie bewegt sich schwerfällig und mit wenig Körperspannung, das verstärkt den Eindruck noch mehr, dass in diesem Körper zunehmend niemand mehr zu Hause ist. Das bricht mir das Herz.


    Ich weiss nicht, was ich tun kann für sie. Unsere Beziehung ist durch die Pubertät noch schwieriger geworden, einerseits bin ich ihr Ein und Alles und andererseits stehe ich ihr irgendwie vor der Sonne, denn sie sollte sich doch von mir abnabeln und das geht irgendwie nicht.


    Was soll ich tun? Mit wem das Gespräch suchen?
    Sie hat eine super Lehrerin. Auch auf der Wohngruppe wird eigentlich gut geschaut, dort sucht man den Kontakt aber nicht so sehr, weil man bewusst will, dass sie sich Kinder vom Elternhaus abgrenzen können.
    Und es läuft ja eigentlich auch alles gut. Weil sie sich eben solche Mühe gibt. Aber ich habe das Gefühl, dass in ihr drin etwas passiert, das ihr nicht gut tut.


    Vielleicht weiss hier jemand Rat oder eine Anlaufstelle?


    Liebe Grüsse Ostwind

  • Hallo Ostwind
    Ich weiss auch keine Lösung für dein/das Problem (mit) deiner Tochter... Ich kann nur sagen, was mir immer geholfen hat. Ich habe keine geistige Behinderung, aber bin selbst auf dem Autismusspektrum. Mir hat immer die 1:1 Beziehung zu einer 'gesunden' Freundin geholfen, bei der ich abschauen konnte, wie man was macht oder machen könnte. Ich muss dazu auch sagen, dass ich immer nur eine, max. zwei Freundinnen hatte aufs Mal. Das hat mir geholfen, zumal diese auch immer sehr darum bemüht waren, die Freundschaft aufrecht zu erhalten.
    Konkret war es so (und ist es vielleicht bei allen Teenagern-egal ob 'krank' oder 'nicht krank'), dass ich Tipps, Ratschläge oder Feedback von gleichaltrigen besser annehmen konnte als die von Erwachsenen Personen.
    Weiter hilfreich war für mich die Jugi (Jugendgruppe der Kirchengemeinde), die ich mehr oder weniger regelmässig besucht habe. Einerseits der Kontakt mit den gleichaltrigen, andererseits die Gespräche mit den Leitern die wohlwollend gelobt oder kritisiert haben und Hilfe angeboten haben. Wir hatten in der Jugi einen Jungen mit Down-Syndrom, der ganz schlecht verbal kommunizieren konnte, aber irgendwie immer gerne in die Jugi gekommen ist. Ich glaube, auch er hat vom Kontakt zu 'gesunden Gleichaltrigen' sehr profitiert.
    Vielleicht ist eine Jugendgruppe eine Idee für deine Tochter?
    Zum Körper(gefühl): ich habe- obwohl ich überhaupt nicht gerne tanze!!- mehrere Jahre eine Tanzthrerapie gemacht. Da geht es um Wahrnehmung des eigenen Körpers aber auch um die Wirkung (des Selbst) auf ein Gegenüber. Sehr positiv für mich: Ich musste kaum reden :-) Vielleicht würden auch Massagen deiner Tochter helfen, wenn sie das zulassen kann.
    Meist geht es in der Pubertät ja um das Annehmen des eigenen, sich verändernden Körpers. Dazu muss man ihn aber erst einmal wahrnehmen können... Ich konnte das nicht, kann es heute noch sehr schlecht. Ich gehe regelmässig in die Physiotherapie, wo ich immer wieder Bewegungsabläufe übe und bewusst Übungen mit dem eigenen Körpergewicht machen muss. Anscheinend soll das helfen, den Körper besser zu spüren.
    ich hoffe, ich konnte dir ein paar Ideen liefern, bin mir aber nicht so sicher!
    LG
    Emma

  • Hallo Ostwind


    Unser ASS betroffener Sohn ist auch 16 Jahre alt. Er ist zu Hause, hat derzeit noch keine Lösung in Aussicht. Ich denke die Pubertät ist allgemein nicht einfach, schon gar nicht in dieser Zeit, und mit ASS wird's bestimmt nicht leichter. Ein Stück weit würden alle Eltern mit pubertierenden Kindern Dir beipflichten, auch wenn sie kein ASS haben. Es ist sehr schwierig (für beide Seiten), in der Pubertät die Verbindung zu behalten... ein Drahtseilakt zwischen Nähe und Distanz, zwischen wortlosem Verstehen und abnabeln, zwischen Verständnis und Eigenständigkeit.


    Ich kenne Dich und Deine Tochter nicht, daher sind alles nur Vermutungen und Interpretationen. Aber so wie Du schilderst, ist Deine Tochter unglücklich und Du ebenso. Kann Sie sich soweit äussern, ob es etwas Konkretes gibt, das ihr an ihrem jetzigen Leben nicht gefällt? Würde es überhaupt eine Option geben, dass sie wieder zu Dir zurück kommen könnte?


    Das mit dem Loslassen ist so eine Sache. Ich habe schon bei einigen ASS Jugendlichen miterlebt, dass sie einfach viiiiel länger gebraucht haben, um loslassen zu können. Auch da gibt es wohl nicht Richtig oder Falsch. Manchmal entscheidet auch das Leben, die Lebensumstände, wann ein Kind auf eigenen Beinen steht. Und manchmal hat man die Wahl und kann entscheiden, die Kinder länger als üblich zu begleiten.


    Meinem Sohn und mir tut es gut, wenn wir 1:1 Zeiten verbringen. Also ohne die anderen Geschwister oder so. Da spüre ich ihn auch am besten. Und da lässt er auch Nähe zu, allerdings nur von mir. Ich denke, er wird auch irgendwann seine eigenen Wege gehen, aber das dauert wohl einfach länger, als bei anderen. Ich für meinen Teil möchte ihm diese Zeit geben und behalte die Hoffnung, dass alles Gut kommt :-)


    Liebe Grüsse
    Patch

  • Hallo Ostwind
    Ich habe keine geistige Behinderung, kann dir dazu also nichts sagen. Ich kann dir nur versuchen zu erzählen, wie es mir in der Pubertät ging.
    Erstens hat es bei mir viel länger als bei anderen gedauert, bis ich mich wirklich für die üblichen Themen von Jugendlichen interessiert habe. Und auch von meiner Mutter wollte ich mich lange nicht trennen, wie es Patch schon beschrieben hat. Ich glaube ich schlief mit 12 oder 13 noch im Bett meiner Eltern ein....
    Ausgang, schminken, sich schön anziehen, Jungs usw. all das hat mich lange nicht interessiert, mir eher Angst gemacht. Heute bin ich 29 und einige dieser Punkte sind mir immer noch fremd. Ich war nie in einem Club, ziehe am liebsten immer mehr oder weniger die gleichen Sachen an und schminke mich nur, wenn es sein muss.
    Heute ist es mir nicht mehr wichtig. In der Pubertät reden alle davon, alle im Umfeld verändern sich, der eigene Körper verändert sich und man kann nicht mithalten. Da schwindet das Selbstwertgefühl ganz schnell.
    Was mir geholfe hat, war wenn ich etwas tun durfte, was ich gut konnte. War bei mir z.B. Nachhilfe geben in Mathe. Und der Umgang mit Tieren. Weil ich zu Hause keine Tiere habe durfte, ging ich reiten.


    Die Idee von Emma (Austausch mit einer Freundin) finde ich gut. Ich hatte nie wirklich eine Freundin, merke aber dass ich viel von meinem Partner lerne. Vieleicht gibt es ein in etwa gleichalteriges Mädchen, dass sich ab und zu mit deiner Tochter treffen möchte? Wenn sie selber nicht gut Freundschaften aufbauen kann, kannst vielleicht jemanden für sie suchen und die Besuche organisieren? So eine Art Freiwilligenarbeit? Oder als andere Idee, könntest du jemanden suchen, der mit deiner Tocher chattet oder Mails schreibt, falls sie lieber schreibt als redet.


    Viel Erfolg und vor allem viele schöne Momente mit deiner Tochter wünsche ich dir!

  • Hallo allerseits


    Herzlichen Dank für Eure Antworten und Eure Offenheit, über Eure eigenen Erfahrungen zu schreiben. Das hilft mir schon sehr viel weiter.


    Eine Freundin, das ist wohl das wichtigste, was meiner Tochter fehlt. Einerseits ist es sehr schwierig für sie, zu kommunizieren und andererseits gab und gibt es in ihrem Leben wohl niemanden, der lange genug bleibt, um eine tiefere Freundschaft aufzubauen. Wir sind oft umgezogen, haben kein soziales Netz. Im Heim hatte sie letztes Jahr ein paar Monate eine wirklich tolle Zimmergenossin, mit ihr war sie recht eng, doch leider ist diese Familie ausgewandert.


    Die Idee, dass ich jemanden suchen könnte, der sie begleiten möchte im Sinn von Freiwilligenarbeit finde ich eine sehr gute. Dass sie weder schreiben noch lesen kann, macht es halt ein bisschen schwierig.


    Wie ich mir überlegt habe, wer oder was denn eine solche Freundin für sie sein könnte, ist der Gedanke an einen Autismusbegleithund aufgetaucht. Ich könnte mir vorstellen, dass das für sie ein Schlüssel zu sehr vielen wäre. Gerade auch weil sie Mühe hat zu kommunizieren. Und ein Hund wäre ein Freund, der in ihrem Leben bleibt, auch wenn sie in zwei Jahren volljährig wird und sich die ganze Situation nochmals ziemlich verändert. Dass sie unter Anleitung die Verantwortung für einen Hund übernehmen könnte, kann ich mir durchaus vorstellen.


    Nur habe ich keine Ahnung, ob das überhaupt irgendwie realisierbar ist. Ob das Heim für eine solche Idee offen wäre. Und wo ich ansetzen muss, damit diese Idee umgesetzt werden könnte. Bis jetzt weiss ich erst, dass es in Allschwil eine Adresse für Autismusbegleithunde gibt, jedoch nur für Kinder bis 10 Jahre. Und für Familien ohne berufstätige Eltern. Da passen wir schon mal nicht rein.


    Hat schon mal jemand davon gehört oder sich selber dafür interessiert?


    Liebe Grüsse
    Ostwind

  • Hallo Ostwind


    Deine Geschichte hat mich irgendwie beschäftigt. Ich möchte dir jetzt unsere erzählen und dann noch die einer Bekannten.


    Unser Sohn hat die Diagnose Asperger. In der 4 Klasse ist er bei der Schuluntersuchung mit dem Gehör aufgefallen. Wir mussten das bei einem Ohrenarzt abklären lassen. Fazit Mittelschwerhörig! Der Ohrenarzt hat uns gesagt, wir machen keine Hörgeräte, da das bei Kindern (den anderen) schlecht ankommt. 2 Jahre später habe ich mir eine Zweitmeinung bei einem speziellen Ohrenarzt für Kinder (hatte keine Ahnung, dass es das auch gibt) eingeholt. Der sagte uns, sofort Hörgeräte anschaffen. Ihr Kind hat einen Verlust von ca. 30%. Mit den Hörgeräten hat unser Sohn etwa 80% seiner Aggressionen verloren. Alles was du in der Schule nicht hörst, musst du schauen.
    Seit dieser Sache glaube ich nicht mehr immer alles, was mir erzählt wird. ich habe wieder gelernt, auf mein Bauchgefühl zu hören und das dann auch durchzuziehen. Die Ärzte lieben mich dafür nicht wirklich. Es muss aber für mein Kind und mich stimmen.


    Die Sprache ist wie eine Melodie. Die Buchstaben haben alle ihre eigenen Frequenzen. Je nach Hörbehinderung fehlen einem mehr oder weniger Buchstaben. Es gibt einen Lückentext, den würden wir auch nicht verstehen. Ich habe dazu in einem Prospekt zwei gute Abbildungen gefunden (könnte ich dir ev. mailen). Mein Mann (hat seit 3 Jahren ein Hörgerät) schwer Schwerhörig sagt mir heute immer, "ich habe die Leute sprechen hören aber nicht verstanden". Wenn du die anderen nicht verstehst, ziehst du dich zurück.


    Unsere Odyssee mit der Hörbehinderung unseres Sohnes habe ich einer Bekannten erzählt. Ihr heute erwachsener Sohn hat die Diagnosen ASS und geistige Behinderung. Sie hatte immer das Gefühl nicht richtig beraten zu sein. Mit diesen Diagnosen ist der Stempel drauf und die Schublade zu. Weitere Abklärungen waren mit dieser Diagnose für die Ärzte nicht mehr nötig. Nach unserem Gespräch hat sie ihren Sohn wieder zu einer Gehörabklärung angemeldet. Heute hat er Hörgeräte. Nach einer Ein- und Angewöhnungszeit trägt er die Geräte. Er schaue einem jetzt auf den Mund, weil er hört, wo die Sprache herkommt. Er artikuliere jetzt seine Wörter und seine Sprache sei deutlicher und besser geworden. Es sind kleine Fortschritte aber er macht welche.


    Du sagst etwas in deinem Text, dass mich aufhorchen liess.
    "aber gar nicht versteht"
    Du bist mit deiner Aussage vielleicht gar nicht so falsch, bloss die Sichtweise ist nicht ganz richtig.


    Unser Sohn besucht heute eine Schule für Hörbehinderte Kinder. Seit er da ist, ist er für mich nicht mehr so "autistisch" weil die hörbehinderten Kinder vieles machen, das wir vorher bei ihm dem Autismus zugeordnet haben.


    Ich möchte dir auf keinen Fall zu nahe treten und eure Diagnosen anzweifeln. Manchmal muss man bloss noch in einer anderen Richtung suchen. Ich hoffe deine Tochter findet ihren Platz in der Gesellschaft und du bist mit dem, was ihr habt glücklich. Wir würden doch für unsere Kinder um die Welt laufen, wenn wir ihnen damit helfen könnten.


    Ganz einen schönen Tag und einen lieben Gruss wünscht


    Jris